«Tanz auf Knochen»: Russland eröffnet zerbombtes Theater in Mariupol
Es gibt Ereignisse aus den ersten Monaten des Ukrainekriegs, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Die Schlacht um das Stahlwerk bei Mariupol etwa oder die russische Eroberung des Kernkraftwerks Saporischschja. Und auch was sich rund um das Mariupoler Stadttheater zugetragen hat, hallt immer noch nach.
Das Gebäude wurde im März 2022 durch einen russischen Luftangriff zerstört, obwohl hier Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Satellitenbilder zeigten, dass diese zuvor zu ihrem Schutz in grossen Lettern das Wort «Kinder» auf den Vorplatz des Theaters geschrieben hatten.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International teilte nach anschliessenden Untersuchungen mit, dass bei dem Bombenangriff auf das Theater mindestens zwölf Menschen getötet wurden. Laut der Nachrichtenagentur «Associated Press» könnte Russland mit dem Luftschlag sogar rund 600 Menschen getötet haben.
Nachdem die russischen Truppen das Theater und weite Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten, hat der Kreml es zu einem seiner Prestigeprojekte gemacht, das Theater in der besetzten Stadt wieder aufzubauen. Am Sonntag wurde es schliesslich in einer feierlichen Zeremonie eröffnet.
Auf der Bühne wurde das russische Märchen «Die scharlachrote Blume» gezeigt. Das russische Fernsehen zeigte Bilder der Gala sowie der wiederaufgebauten Marmortreppe und Säulen des Theaters. «Das Theater erlebt gemeinsam mit Mariupol eine Wiedergeburt. Russische und sowjetische Klassiker kehren auf die Bühne zurück», heisst es in einer Erklärung des Theaters zu seinen Zukunftsplänen.
Dass dort, wo Russland vor über drei Jahren ein schreckliches Kriegsverbrechen begangen hat, nun russische Theaterstücke aufgeführt werden, ist für viele Beobachtende eine Schande.
Russland öffnet Mariupol-Theater: Ex-Mitarbeiter sind schockiert
«Mir fällt kein anderes Wort dafür ein als Zynismus», sagt Jewgeni Sosnowski, ein Fotograf aus Mariupol, der lange mit dem Theater zusammengearbeitet hatte, in einem Bericht der britischen Zeitung «The Guardian». Er lebt inzwischen in Kiew und findet: «An diesem Ort sollte ein Denkmal zum Gedenken an die Einwohner von Mariupol stehen, die während der russischen Besetzung der Stadt ums Leben kamen, und kein Unterhaltungszentrum.»
Vira Lebedynska, eine ehemalige Schauspielerin des Theaters, wird mit den Worten zitiert:
Sie lebt und arbeitet inzwischen mit einer kleinen Gruppe ehemaliger Schauspieler:innen aus Mariupol in Uschhorod im Westen der Ukraine. Sie haben sich dort zu einem Exiltheater zusammengeschlossen und sind mit dem Stück «Mariupol-Drama» im vergangenen Jahr durch Europa getourt.
Es basiert auf den Ereignissen im Februar und März 2022 im Mariupoler Theater. «Mir wurde klar, dass es meine Mission war, der Welt zu erzählen, was dort im Theater passiert war», sagt Lebedynska.
Einige andere Schauspieler sind jedoch in Mariupol geblieben und arbeiten unter der russischen Besatzung weiter am Theater. «Für sie zählt nur das Spielen auf der Bühne, alles andere ist nebensächlich. 'Wir stehen ausserhalb der Politik' ist ihr Prinzip. Es ist ihnen egal, ob sie in Russland oder in der Ukraine sind», sagt der frühere Theaterfotograf Sosnovski.
Die russische Führung bestreitet den Luftschlag auf das Theater bis heute und behauptet, die nicht zu leugnenden Schäden am Gebäude seien durch eine Explosion im Inneren verursacht worden. Mehrere unabhängige Untersuchungen kommen aber zu dem Schluss, dass russische Bomben dafür verantwortlich waren.
Russlands Behörden haben inzwischen Igor Solonin zum neuen Leiter des Theaters ernannt, den ehemaligen stellvertretenden Direktor des Donezker Zirkus. Dieser wiederholte Anfang des Jahres in einem Interview mit einem russischen Journalisten die Behauptung, das Theater sei von innen gesprengt worden. «Es war eine interne Explosion. Entweder eine Bombe oder ein Sprengsatz im Gebäude, oder vielleicht wurde Munition unsachgemäss behandelt», sagte er.
Laut «The Guardian» haben mehrere Personen, die sich zum Zeitpunkt der Explosion im Theater befanden, bezeugt, dass sich dort keine Soldaten oder militärische Ausrüstung befanden.
