International
Ukraine

Marko Martin: Schonungslose Kritik an deutscher Russland-Politik

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Feierstunde: Die anschliessende Rede von Marko Martin erhielt spontanen Applaus – sehr zum Leidwesen Steinmeiers.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier musste sich einiges anhören ...Bild: imago-images-bilder

«Wutentbrannt» nach Kritik an Russland-Politik: Diese Rede führte zum Steinmeier-Eklat

Vor ilustrem Publikum kritisiert der Autor Marko Martin den deutschen Bundespräsidenten und dessen Partei SPD für ihre fragwürdige Russland-Politik. Ein bemerkenswerter Auftritt.
09.11.2024, 20:3911.11.2024, 06:57
Jonas Mueller-Töwe / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

So düpiert wurde ein deutscher Bundespräsident selten. Im Schloss Bellevue, im eigenen Amtssitz. Vor geladenen Gästen, auch aus befreundeten Staaten. Die Feier zur Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR, die vor 35 Jahren letztlich zur Deutschen Einheit führte, geriet für Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag zur Blamage.

15 Minuten lang rechnete der Dissident und Schriftsteller Marko Martin am Rednerpult mit deutschen Lebenslügen zur Wende und sozialdemokratischen Irrungen in der Russland-Politik ab. Als er Steinmeiers Wirken als Aussenminister direkt ansprach, brandete mitten ins ungläubige Staunen im Publikum spontaner Applaus auf. In der ersten Reihe applaudierten Steinmeiers Sitznachbarn.

«Wutentbrannt auf mich zugestürmt»

Es ist einer der Momente, die sich ins kollektive Gedächtnis einprägen müssten. Wie Beate Klarfelds Ohrfeige für den Kanzler Kiesinger (mit NS-Vergangenheit). Wie Joschka Fischers obszöner Ruf in Richtung Bundestagspräsident. Wie Wolf Biermanns Bundestagsrede im Angesicht der Linken-Abgeordneten.

Steinmeier konnte von Glück reden, dass an diesem Tag die Augen auf den Rauswurf von Finanzminister Christian Lindner gerichtet waren – sonst wäre Medienvertretern vielleicht aufgefallen, wie der Bundespräsident, laut Schilderungen, den unliebsamen Redner im Anschluss empört zur Rede stellte.

Marko Martin bestätigte die Situation: «Steinmeier ist wutentbrannt auf mich zugestürmt.» Auch Umstehende konnten ihn demnach nicht beruhigen.

Was hat Steinmeier derart aus der Reserve gelockt?

Der sehenswerte Auftritt:

Martin war gelungen, womit im Bundespräsidialamt offenbar niemand gerechnet hatte: Einen inhaltlich stimmigen Bogen von der ostdeutschen Revolution zur verfehlten Ostpolitik der SPD zu schlagen. Vom ideologischen Erbe der SED-Diktatur zu Egon Bahrs westdeutschem Chauvinismus gegenüber Osteuropa. Vom Friedensbegriff der Deutschen über Gerhard Schröder zu Nord Stream 2 und der Vollinvasion der Ukraine.

Die vermeintliche Aufarbeitung der deutschen Sozialdemokratie stellte Martin bloss:

«Es scheint, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung [gegenüber Osteuropa] noch heute fortwirkt. Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos grosssprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie.»

Mit eben jenem Statement hatte kürzlich der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch sogar innerparteilich schockiert.

Martin blieb aber nicht bei Miersch stehen, sondern nahm sich Steinmeier direkt vor, der über viele Jahre die deutsche Aussenpolitik verantwortete.

«Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Aussenministers hören mussten, die NATO-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien ‹Säbelrasseln und Kriegsgeheul›.» Letzteres war ein direktes Steinmeier-Zitat.

«Säbelrasseln und Kriegsgeheul? Sehr geehrter Herr Bundespräsident, und bei allem Respekt und ohne jede wohlfeile Polemik: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern ‹eine Brücke› – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 –, als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her.»

«Für Kritik wurde ich offenbar nicht eingeladen»

Steinmeier blieb während der Rede ruhig, wirkte aber bereits verkniffen. Die Worte und die Situation im Schloss Bellevue brüskierten ihn dabei offenbar so sehr, dass er Martin im Anschluss zur Rede stellte (siehe Quellen).

«Sogleich war er auf jener Ebene, dass Politiker versuchen Probleme zu lösen und die Intellektuellen alles erschweren», sagte Martin.

«Das klang genau nach dieser Art Herrschaftswissen, nach deren Logik all die Normalsterblichen ja überhaupt keine Ahnung haben, die dort unten herumwuseln und schimpfen und moralisieren.»

Martins Fazit: «Für Kritik wurde ich offenbar nicht eingeladen.»

Quellen

(t-online/dsc)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
16 Hamster-Hintern, um den Alltagsstress zu vergessen
1 / 20
16 Hamster-Hintern, um den Alltagsstress zu vergessen
Hoffentlich steckt er nicht fest.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Rote Fahne wird in Berlin wehen» – Putins Propaganda-Show in Moskau
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
197 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
MartinZH
09.11.2024 21:24registriert Mai 2019
„Wenn man sich zu lange mit Typen wie Lavrov und Putin in einer ‚Verantwortungsgemeinschaft’ wähnt, dann spiegelt sich das irgendwann auch zurück ins eigene Verhalten.“

So klar, deutlich und auf den Punkt, diese Worte. Danke an Marko Martin. Hier zu protestieren erforderte sicher Mut und Integrität – was vielen deutschen Eliten fehlt.

Steinmeier war schon immer durch und durch ein Machtmensch mit Nähe zu RU (die Foto spricht Bände). Endlich hat ihm jmd. in aller Öffentlichkeit die Leviten gelesen. Dass Steinmeier dies als Affront wahrnimmt, verdeutlicht nur sein fehlendes Reflexionsvermögen.
Bild
25818
Melden
Zum Kommentar
avatar
Nichtmehr Wähler
09.11.2024 21:31registriert Mai 2023
Tja die Wahrheit tut halt weh 😂😂
2138
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pfammi
09.11.2024 20:55registriert Juli 2015
Wow
1739
Melden
Zum Kommentar
197
Brandstifter legen Feuer in Synagoge in Vorort von Melbourne

In Australien haben mit Masken verhüllte Brandstifter laut Polizei ein Feuer in einer Synagoge in einem Vorort von Melbourne gelegt. Der Brand sei am Freitag (Ortszeit) vor Sonnenaufgang ausgebrochen, erklärte die Polizei.

Zur Story