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Ukraine-Krieg: Die grossen Irrtümer der deutschen Russland-Politik

Die grossen Irrtümer der deutschen Russland-Politik

Nach dem Massaker von Butscha durch die russische Armee hat der ukrainische Präsident Selenskyj Altkanzlerin Merkel schwere Vorwürfe wegen ihrer Russland-Politik gemacht. Hat er recht?
05.04.2022, 14:0605.04.2022, 17:16
Miriam Hollstein / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Es waren harte Worte, die Wolodymyr Selenskyj in einem Video wählte, das in der Nacht zu Montag ausgestrahlt wurde. Darin forderte der ukrainische Präsident die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie den ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf, mit ihm nach Butscha zu kommen – jenem Kiewer Vorort, in dem russische Truppen vor ihrem Abzug brutal gemordet und vergewaltigt hatten. Aufnahmen davon waren am Wochenende bekannt geworden und hatten zu entsetzten Reaktionen in der ganzen Welt geführt.

«Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat», sagte Selenskyj wörtlich. «Sie werden die gefolterten Ukrainer und Ukrainerinnen mit eigenen Augen sehen.»

Wegen dieser «Fehlkalkulation» habe die Ukraine eine Revolution, acht Jahre Krieg im ostukrainischen Donbass und nun «den schlimmsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg» erlebt.

Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy examines the site of a recent battle in Bucha close to Kyiv, Ukraine, Monday, Apr. 4, 2022. Russia is facing a fresh wave of condemnation after evidence emerged ...
Wolodymyr Selenskyj am Montag in Butscha.Bild: keystone

Botschafter wirft Steinmeier «Spinnennetz» vor

Kurz zuvor hatte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, in einem «Tagesspiegel»-Interview seine Kritik am früheren Aussenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erneuert. «Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht. Auch der Angriffskrieg spielt da keine grosse Rolle», sagte Melnyk dem «Tagesspiegel».

Dieser habe seit Jahrzehnten ein «Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft». Am Sonntagabend legte Melnyk im «Bericht aus Berlin» in der ARD nach:

«Wenn diese aussenpolitische Katastrophe der Bundesrepublik nicht aufgearbeitet wird (...) dann läuft man Gefahr, dass sich etwas Ähnliches wiederholt und dass man sich wieder in eine Abhängigkeit begibt.»

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Warum richten sich die Vorwürfe gegen Merkel und Steinmeier?

Ganz einfach: Angela Merkel regierte Deutschland von 2005 bis 2021 und war damit hauptverantwortlich für die Russland-Politik der Bundesregierung. Eng verbunden war diese aber auch mit dem Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier, den Merkel 2005 das erste Mal zum Aussenminister machte. Ab 2007 hatte Steinmeier zudem nach dem Rückzug von Franz Müntefering den Posten des Vizekanzlers inne.

Von 2009 bis 2013 war die SPD nicht an der Regierung beteiligt, aber 2013 wurde Steinmeier erneut Aussenminister. Im Januar 2017 gab er das Amt auf, um sich zum Bundespräsidenten wählen zu lassen. Sein Nachfolger wurde Sigmar Gabriel. Nach der Bundestagswahl entschied sich die SPD-Führung, das Amt mit Heiko Maas neu zu besetzen.

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Angela Merkel (hier bei einem Besuch in Moskau im August 2021) war eine der wenigen, die von Wladimir Putin respektiert wurde. Sie selbst misstraute ihm bis zum Schluss.Bild: keystone

Sowohl Merkel als auch Steinmeier waren im Amt, als Russland 2014 völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektierte. Mit der Kritik in seiner Videobotschaft spielte Selenskyj offenbar aber auf ein anderes Ereignis an: Ende 2008 drängte die amerikanische Regierung darauf, die Ukraine und Georgien schnell in die Nato aufzunehmen.

Doch die Aufnahme in das Vorbereitungsprogramm scheiterte vor allem am Widerstand Deutschlands und Frankreichs, dessen Präsident damals Nicolas Sarkozy war. Stattdessen wurde der Ukraine zu einem nicht näher spezifizierten späteren Zeitpunkt eine Aufnahme vage in Aussicht gestellt.

Was sind die Hauptvorwürfe?

Die ukrainische Führung wirft Deutschland vor, das Land nicht genügend gegen die Bedrohung durch Russland geschützt zu haben – angefangen mit seiner Blockadepolitik gegen einen Nato-Beitritt über den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 (mit der Erdgas von Russland nach Deutschland transportiert werden sollte) bis hin zu der Weigerung vor Kriegsbeginn, an die Ukraine Waffen zu liefern.

Der Vertrag für Nord Stream 2 war im September 2015 unterzeichnet worden, also rund anderthalb Jahre nach der Annexion der Krim. Mehrere Transitländer für Erdgas protestierten, darunter auch die Ukraine. Sie fürchteten, dass die Pipeline zu einer grösseren Abhängigkeit Europas von Russland und als Folge auch zu einem geringeren Widerstand gegen russische Expansionspläne führen könnte.

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Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier pflegte als Aussenminister ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem russischen Amtskollegen Sergey Lawrow (hier bei einem Treffen 2012 in Berlin)Bild: EPA/DPA

Auch Polen und die USA lehnten Nord Stream 2 ab. Die Bundesregierung hielt an dem Projekt auch dann fest, als die US-Regierung mit massiven Sanktionen drohte. Erst seit Kriegsbeginn ist das Genehmigungsverfahren gestoppt.

Innenpolitisch wird Merkel und Steinmeier eine falsche Russland-Strategie vorgeworfen, die Deutschland in eine fatale Abhängigkeit bei der Energieversorgung gebracht habe. So hatte Merkel 2014 in der sich zuspitzenden Krim-Krise zwar angekündigt, die Abhängigkeit von Russland in Energiefragen überprüfen zu wollen, später dieses Vorhaben aber wieder fallen lassen. Der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk hatte damals gewarnt, Deutschlands Gasabhängigkeit könne «die Souveränität Europas ernsthaft begrenzen».

Als Bundespräsident hat er den Krieg in der Ukraine zwar von Anfang an klar verurteilt und Russland als Schuldigen benannt. Allerdings hatte er noch 2021 Nord Stream 2 als eine der letzten verbliebenen «Brücken zwischen Russland und Europa» verteidigt. Dass er dies auch mit der historischen Verantwortung Deutschlands nach den von der Wehrmacht verübten Verbrechen in der Sowjetunion begründete, sorgte für Empörung auf ukrainischer Seite.

Was sagen Experten?

Stefan Meister, Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der «Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik», wirft der Bundesregierung schon seit Jahren eine falsche Russland-Politik vor.

Den Ursprung sieht er im Jahr 2008. «Man hätte aus dem russisch-georgischen Krieg lernen können und müssen, spätestens aber aus der Annexion der Krim», sagt der Politologe, der auch Osteuropäische Geschichte studiert hat. Zumal sich Putin nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten 2012 deutlich radikalisiert gezeigt habe. Dass die Bundesregierung an ihrer Strategie «Wandel durch Handel» festhielt, nennt Meister «Realitätsverweigerung».

«Merkel ist nie dem Ostpolitik-Virus erlegen»

Dabei unterschieden sich Merkel und Steinmeier nach Ansicht von Meister aber in ihren Motiven: «Frau Merkel ist nie dem Ostpolitik-Virus der SPD erlegen. Sie hat Putin klar verstanden, aber aus politischem Opportunismus ihren Kurs fortgesetzt.» Vor allem wirtschaftliche Interessen hätten sie dazu bewogen, an der Energieabhängigkeit nicht nur festzuhalten, sondern diese auch noch weiter auszubauen.

Steinmeier sei hingegen ein «Schlüsselrepräsentant» jener Ostpolitik, die von Willy Brandt geprägt wurde und für die SPD eine «Identitätsfrage» sei: der Glaube, dass wirtschaftliche Beziehungen und gesellschaftlicher Austausch mit Russland (früher: die Sowjetunion) nicht nur wesentlich zum Ende des Ost-West-Konflikts beigetragen haben, sondern mittelfristig auch zu einer Demokratisierung autoritärer Staaten führe («Wandel durch Annäherung»).

«Russland hat ein andere Kosten-Nutzen-Kalkulation»

Ein Irrglaube, sagt Meister: «Russland hat eine andere Kosten-Nutzen-Kalkulation.» Putin habe kein Interesse an einem Demokratisierungskurs, weil dieser ihn die Macht kosten würde. Das hätten ihm auch die Massenproteste nach den Parlamentswahlen 2011 gezeigt.

Von der jetzigen Regierung erwartet der Politologe Meister eine neue Strategie, die aufhöre, Osteuropa immer «durch die russische Linse» wahrzunehmen, stattdessen zwischen Russland und anderen osteuropäischen Ländern klar unterscheide und sich nicht ständig von Putin treiben lasse. «Dafür brauchen wir auch eine langfristige Vision für eine neue Sicherheitsarchitektur und Energiepolitik in Europa, in der Russland nach Putin auch einen Platz hat.» Vor allem aber müsse die deutsche Politik «aus der Rolle der Getriebenen herauskommen».

Einen sofortigen Stopp aller Energielieferungen sieht Meister skeptisch: «Putin wird sich davon nicht beirren lassen, er ist derzeit bereit, jeden Preis zu zahlen. Der Schaden für die deutsche Wirtschaft aber wäre sehr gross.»

Auch Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, hält die Russlandpolitik von Merkel und Steinmeier für gescheitert. «Der grösste Fehler war der naive Glaube, dass man mit immer dichteren ökonomischen und politischen Beziehungen, Russland sozialisieren könne und Russland deshalb auf seine neoimperialen Ambitionen verzichten werde», sagt er: «Die neue Ostpolitik ist in den Trümmern von Mariupol versunken.»

Steinmeier räumt Fehler ein

Immerhin: Nach langem Zögern räumte Steinmeier am Montag erstmals Irrtümer ein. Das Festhalten an Nord Stream 2 sei «eindeutig ein Fehler» gewesen, sagte er in einem Gespräch mit Journalisten in Schloss Bellevue, aus dem unter anderem die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtete. Er habe geglaubt, «dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt». Steinmeier gab auch zu, beim Versuch gescheitert zu sein, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden.

Zu offener Selbstkritik konnte sich Angela Merkel bislang nicht durchringen. Über eine Sprecherin liess sie am Montag mitteilen, dass sie zur Entscheidung, der Ukraine 2008 den Nato-Beitritt zu verwehren, weiter stehe. Zugleich unterstütze sie alle Bemühungen, der Ukraine jetzt im Krieg gegen Russland zur Seite zu stehen. 

Verwendete Quellen:
- Telefon-Interview mit Stefan Meister am 4. April 2022
- «Schriftliches» Interview mit Carlo Masala am 4. April 2022
- Eigene «Recherchen»​
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43 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Don Alejandro
05.04.2022 15:19registriert August 2015
Die Kritik ist berechtigt - jedoch sollte die freie Welt nun geschlossen auftreten und sich nicht selbst zerfleischen.
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Päule Freundt
05.04.2022 15:07registriert März 2022
Die russische Regierung war dem Westen gegenüber feindlich eingestellt. Der russische Bär war unzufrieden und missmutig und zeigte dies bereits 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz sehr deutlich.

Und Deutschland hat damals mit einer „Besänftigungspolitik” reagiert, welche heute in Scherben liegt.

Wenn die Russen offensichtlich lieber Kriegs- und Zerstörungsspiele betreiben wollen, dann sollte sich Westeuropa von der russischen Wirtschaft abkoppeln. Mit Kriegsfürsten sollte der Westen weder politisch noch wirtschaftlich Beziehungen pflegen.
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Laborant
05.04.2022 15:57registriert November 2019
Vielleicht sollte man allgemein Autokraten gegenüber vorsichtiger sein. Das weiss man allerdings nicht erst seit gestern.
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