Nach der Rückeroberung von Cherson sind die Hoffnungen auf weitere ukrainische Siege beinahe ins Unermessliche gestiegen. Die meisterhafte ukrainische Kriegspropaganda, insbesondere in den sozialen Netzwerken, hat viel zu dieser Euphorie im Westen beigetragen.
Die aktuell schweren Kämpfe rund um Bachmut belegen indes: Nichts wäre verhängnisvoller, als die russische Militärmacht voreilig abzuschreiben. Dort, wo die russischen Streitkräfte konzentriert eingesetzt werden, sind sie nicht nur in der Lage, sich gegen die Ukrainer zu behaupten, sondern selbst wieder Geländegewinne zu erzielen.
Bereits kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar und den ersten grossen Rückschlägen vor Kiew warnte der Militärhistoriker und Direktor des deutschen Panzermuseums, Ralf Raths, dass die Geschichte immer wieder bewiesen habe, wie lern- und anpassungsfähig russische Armeen nach anfänglich katastrophalen Niederlagen sein könnten.
Dabei spielte Raths unter anderem auf den Winterkrieg von 1939 gegen Finnland an, wo die Sowjetunion nach den zu Beginn verheerenden «Motti-Kesselschlachten» den Kriegsverlauf im Frühjahr 1940 zu seinen Gunsten wendete und Finnland zu weitreichenden Gebietsabtritten zwang.
In der Ukraine hat die russische Armee inzwischen ihren Rückzug aus Cherson über den Dnjepr-Strom ohne die horrenden Verluste an Menschen und Material vollzogen, die ihr angesichts dieser schwierigsten aller Militäroperationen vorausgesagt worden waren. Diese Absetzoperation lief offenbar dermassen geordnet ab, dass unmittelbar danach Gerüchte auftauchten, Russland müsse mit der Ukraine einen heimlichen Deal über die Räumung von Cherson abgeschlossen haben.
Daran dürfte nichts Wahres sein. Vielmehr scheint sich aus russischer Sicht die Ernennung von Armeegeneral Sergei Surowikin zum Oberkommandierenden auszuzahlen. Der für seine Brutalität berüchtigte 56-jährige Karriereoffizier hat durch Artilleriedauerbeschuss auf die nachrückenden Ukrainer Cherson beinahe zur unbewohnbaren Zone gemacht und setzt die von dort abgezogenen Eliteeinheiten weiter nördlich im Dombass für Gegenangriffe ein.
Zuvor verschaffte «General Armageddon», wie Surowikins wenig schmeichelhafter Übername lautet, Russland auf strategischer Ebene mit dem wellenartigen Massenbeschuss durch Raketen und Drohnen auf die zivile Infrastruktur einen Vorteil. Unablässige Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung hatte Surowikin bereits zu seiner Zeit als Kommandeur in Syrien zu seinem Markenzeichen gemacht.
In der Ukraine setzt er diese Strategie mit noch grösserer Brutalität fort. Bereits zwei Tage nach seiner Ernennung durch Putin erteilte Surowikin den Feuerbefehl für die ersten grossen Raketenschwärme auf die ukrainischen Ballungszentren.
Gebannt erwartet man in Kiew in dieser Woche weitere dieser Wellen, welche grosse Ressourcen der ukrainischen Flugabwehr, Luftwaffe und Aufklärung binden. «Zwar siegen die Ukrainer auf den Schlachtfeldern, aber sie können gegen die Russen nicht auf strategischer Ebene zurückschlagen», bemerkt hierzu der US-Militäranalyst Lawrence Freedman.
Ein anderer Militärexperte, der australische Ex-Generalmajor Mick Ryan, sagt voraus, dass die russische Mobilisierung von zusätzlichen Rekruten und Material, die im Schatten der strategischen Raketenoffensive vonstattengeht, Surowikin in die Lage versetzen werde, im Frühjahr 2023 massive offensive Operationen durchzuführen. Mit diesem Ziel vor Augen finden auch Anpassungen auf untergeordneter taktischer Ebene statt, was wiederum zweifellos auf Surowikins Einflussnahme zurückgeht.
Aktuell behaupten britische Geheimdienste, Russland wende sich von seinem bisher gültigen Grundkonzept vom Einsatz taktischer Bataillonsgruppen (BTG) ab. Wie das Verteidigungsministerium in London am Dienstag in seinem täglichen Ukraine-Rapport schreibt, habe sich «die relativ geringe Zuteilung von Infanterie an die BTG oft als unzureichend» erwiesen.
Zudem sei die Artillerie gemäss dieser Einsatzdoktrin zu verstreut aufgestellt worden, was den russischen Mengenvorteil bei dieser entscheidenden Waffe zunichtemachte.
Mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit trauen westliche Militärkreise Armeegeneral Surowikin zu, Russland mit dem altvertrauten Masseneinsatz von Infanteriewellen nach massiver Artillerievorbereitung zurück auf die Siegerstrasse bringen zu wollen. Weder die eigenen und erst recht nicht die ukrainischen Verluste würden Surowikin davon abhalten, sobald Russlands Arsenale wieder genügend aufgestockt sind.
Unter diesen Voraussetzungen sei es für die Ukraine ratsam, trotz aller Brutalität Surowikins Führungsqualitäten nicht zu unterschätzen, stellt Ex-General Ryan klar. Künftige militärische Erfolge der Ukrainer werden laut Ryan stark davon abhängen, wie gut sie Surowikin verstehen und seine Taktiken übertrumpfen («out-think») können. Gleichzeitig dürfe der Westen ja nicht mit seinen Waffenlieferungen nachlassen und müsse endlich auch Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine liefern. (aargauerzeitung.ch)
Ich traue zwar den Berichterstattungen nicht mehr, aber ich vertraue darauf, dass die Ukraine diesen Krieg früher oder später gewinnt. Auch wenn die Russen Gebietsgewinne verzeichnen, die Verluste werden so hoch sein, die Moral wird aus dem letzten Russen verschwinden.
Die Frage ist, ob der Westen eine weitere Eskalationsstufe seitens der Ukraine zulässt; sprich Angriffe auf russische Basen/Ziele auf russischem Gebiet um die neue Offensive zu kontern.