International
Ukraine

Riesiger Damm in der Ukraine schwer beschädigt – 5 Punkte

Video: watson

Russen rufen Notstand aus – Sprengung des Kachowka-Damms in 5 Punkten erklärt

06.06.2023, 07:3106.06.2023, 15:49
Mehr «International»

>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker

Was ist passiert?

Eine Explosion hat am 6. Juni 2023 den Nova-Kachowka-Damm zerstört. Die bestätigen ukrainische Militärkreise. Der Zeitpunkt ist kritisch: Der Stausee hat derzeit den höchsten Stand seit 30 Jahren.
Der schwer beschädigte Damm.Bild: twitter/osinttechnical

Im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson sind nach Angaben der Kriegsparteien ein wichtiger Staudamm sowie ein angrenzendes Kraftwerk nahe der Front schwer beschädigt worden. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Mittlerweile stehen Teile der Stadt Cherson unter Wasser, Evakuationen wurden auf ukrainischer sowie russischer Seite eingeleitet. Die prorussische Regierung vor Ort hat den Notstand ausgerufen.

Wer steckt dahinter?

Kiew und Moskau machten sich am Dienstagmorgen gegenseitig für den Vorfall mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich. Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka selbst gesprengt. Präsident Selenskyj sprach via Twitter von «russischen Terroristen», die für das Desaster verantwortlich seien.

Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudamm verantwortlich. Das russische Staatsmedium «RIA Novosti» berichtete zuerst, dass der Damm von ukrainischen «Wilcha»-Raketenwerfern beschossen worden sei, und zitierte dabei die Verwaltung von Nowa Kachowka.

In einem späteren Statement gegenüber der Staatszeitung «Tass» erklärte Wladimir Leontjew, der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, dass Raketeneinschläge den Schaden verursacht hätten.

Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Wo liegt der Damm eigentlich?

Der Damm liegt am Unterlauf des Dnjepr, rund 70 Kilometer nordöstlich von Cherson. Der Stausee, genannt Kachowka-Reservoir, hat in etwa die Fläche des Kantons St.Gallen. Er ist rund 240 km lang, bis zu 23 Kilometer breit und führt ein Volumen von rund 18,2 km3 Wasser. Der Damm selbst ist etwa 3 Kilometer lang. Er stellt die letzte Stufe einer Serie von sechs Stauseen entlang des Dnjepr dar.

Der Kachowka-Stauamm, unbeschädigt.
Das Kachowka-Kraftwerk, unbeschädigt.Bild: Ukrainischer Generalstab

Der Kachowka-Staudamm wurde 1956 während der Sowjet-Zeit gebaut. Von den 28 Säulen, auf denen der Damm steht, sollen 11 zerstört sein, berichtet das prorussische Medium Rybar auf Telegram.

Wie geht es jetzt weiter?

Gemäss Simulationen dürfte am späteren Abend eine rund 4–5 Meter hohe Flutwelle den Hafen von Cherson treffen.

Auf der rechten Seite des Flusses Dnipro, wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt, befänden sich rund 16'000 Menschen in der «kritischen Zone», Evakuierungen seien im Gange. Man habe Extrazüge einbestellt, um die gefährdeten Personen in Sicherheit zu bringen, erklärte Militärgouverneur Prokudin.

Premierminister Denys Schmyhal erklärte am Dienstag, dass rund 80 Siedlungen von der Flut bedroht seien. Das ukrainische Staatsmedium Suspilne veröffentlichte dazu eine Karte mit den grössten betroffenen Siedlungen.

Eine Karte, welche die betroffenen Siedlungen zeigt.
Bild: Suspilne

Auf russischer Seite sah man dem Ganzen gelassener entgegen. «Der Wasserstand in Nowa Kachowka ist um 5 Meter gestiegen», sagte Wladimir Leontjew staatlichen russischen Nachrichtenagenturen zufolge am frühen Morgen. Zudem seien bereits mehrere Inseln flussabwärts vollständig überflutet; bislang gebe es aber keine Notwendigkeit, Zivilisten in Sicherheit zu bringen.

Am Mittag gab Leontjew im Staatsfernsehen bekannt, dass der Wasserpegel nun auf 12 Meter angestiegen sei und insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften auf der russisch besetzten Seite betroffen seien. Er hat den Notstand für die Stadt ausgerufen.

Die geflutete Stadt Nowa Kachowka.
Das Ufer von Nowa Kachowka, noch am Vormittag.Bild: telegram

Am Dienstagmorgen gab Leontjew zudem im russischen Staatsfernsehen bekannt, dass nebst dem Damm selbst nun auch das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört sei. Es sei «offensichtlich», dass eine Reparatur nicht möglich sei.

Eine Nahaufnahme des Nowa Kachowka Damms.
Diese Aufnahme zeigt das Turbinenhaus des Staudamms.Bild: telegram
Das Hauptgebäude des Kachowka-Kraftwerks.
Das Hauptgebäude des Kraftwerks ist komplett geflutet.Bild: telegram

Andrey Aleksejenko, ein von Russland eingesetzter Beamter im besetzten Teil des Oblasts Cherson, behauptete via Telegram, dass sich rund 22'000 Personen auf «seiner Seite» im Flutgebiet befänden. Die Situation sei jedoch unter Kontrolle.

Wiederaufbau schwierig

Professor Hubert Chanson von der University of QLD School of Civil Engineering erklärte gegenüber dem «Guardian», dass es «keine leichte Aufgabe» sei, den Damm wiederherzustellen. Eine Reparatur umfasst das «Stopfen» der Brücke und der Öffnung im Damm, in der Regel durch das Abladen von Steinen oder Betonblöcken:

«Das geht aber nur in einem sicheren Umfeld, wenn eine der beiden Kriegsparteien die Kontrolle über das Gebiet hat.»
Der Durchbruch am Kachowka-Staudamm
Auf die Schnelle lässt sich so ein Schaden nicht einfach reparieren, so Chanson.Bild: telegram

Was sind die Auswirkungen?

Der deutsche Sicherheitsexperte und Ukraine-Kenner Nico Lange sieht in einer ersten Reaktion vor allem drei Konsequenzen:

  1. Keine Überquerung des Dnipro bei ukrainischer Offensive möglich
  2. Hochwasser am linken, derzeit von Russland besetzten Ufer
  3. Probleme mit der Wasserversorgung der Krim

Der erste Punkt dürfte den ukrainischen Streitkräften Sorgen bereiten. Über die geplante ukrainische Grossoffensive ist zwar nicht viel bekannt, ein Angriff über den gefluteten Dnjepr dürfte nun aber nicht mehr durchführbar sein.

Auch für das umkämpfte Kernkraftwerk Saporischschja ist die Sprengung ein Risiko. Das Kraftwerk liegt zwar nicht in unmittelbarer Nähe zum Damm, ist aber auf das Wasser des Stausees angewiesen.

Energoatom, die staatliche Betreiberin, hat sich zur Sprengung geäussert: «Sie könnte negative Konsequenzen [für das Kernkraftwerk Saporischja] haben, aber die Situation ist unter Kontrolle.»

«Das Wasser aus dem Kachowski-Reservoir wird benötigt, um die Turbinenkondensatoren und Sicherheitssysteme des ZNPP mit Strom zu versorgen. Der Kühlteich des Kraftwerks ist jetzt voll: Um 8.00 Uhr morgens betrug der Wasserstand 16,6 Meter, was für den Bedarf des Kraftwerks ausreichend ist.

Energoatom überwacht die Situation und verfolgt die Aktionen der Arbeiter im KKW ZNPP zusammen mit anderen internationalen Organisationen, die im Kraftwerk anwesend sind, insbesondere mit der IAEA.»

Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sieht keine unmittelbare Gefahr für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja. In dem von Russland besetzten AKW würden jedoch Massnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi am Dienstag in Wien.

«IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau», teilte Grossis Behörde auf Twitter mit. «Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk.» Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW – das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt – sei nicht betroffen.

«Es ist daher unerlässlich, dass dieses Kühlbecken intakt bleibt», warnte Grossi. «Es darf nichts geschehen, was seine Unversehrtheit potenziell gefährden könnte», appellierte er an Kiew und Moskau. Grossi kündigte an, das AKW nächste Woche erneut zu besuchen. Seit September sind eine Handvoll IAEA-Experten permanent als neutrale technische Beobachter in Saporischschja stationiert.

(sda/dpa/mlu/cpf)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
«Ich hasse Leute, die andere Leute nicht aus dem Zug aussteigen lassen»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
225 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
N. Y. P.
06.06.2023 07:39registriert August 2018
Die letzten Zuckungen Russlands.

Aber auch das hat die NATO durchgespielt. Dann wird es halt noch eine Verzögerung geben. Und die Ukraine kann ihr Arsenal in der Zwischenzeit noch aufstocken.

Danach wird zum Angriff geblasen.
16738
Melden
Zum Kommentar
avatar
Minotauro
06.06.2023 07:46registriert August 2022
Eine wichtige Frage fehlt: Ist das Atomkraftwerk Saporischschia bedroht?

Aktuell sehen Experten (u.a. Marcus Keupp) keine Gefahr. Seit die Reaktoren runtergefahren wurde, wird sehr wenig Wasserkühlung benötigt.
1173
Melden
Zum Kommentar
avatar
Ping und Otten
06.06.2023 07:47registriert August 2020
Wenn ich das richtig gesehen habe, liegt das KKW Saporischia am Stausee. Könnte der sinkende Wasserspiegel Auswirkungen auf dessen Betrieb und Sicherheit haben?
676
Melden
Zum Kommentar
225
Explosion bei Festival in Thailand: 3 Tote, 48 Verletzte – Polizei nimmt Jugendliche fest

Bei einer Explosion auf einem Festival im Westen Thailands sind Medienberichten zufolge mindestens drei Menschen getötet und 48 weitere verletzt worden. Nahe einer Tanzbühne sei eine Granate in die Menge geworfen worden, teilte ein Polizeisprecher laut den Berichten mit. Zwei 16 und 17 Jahre alte Jugendliche seien als Verdächtige festgenommen worden.

Zur Story