Zum ersten Mal seit acht Monaten wehte am Donnerstag keine russische Flagge mehr über dem Gebäude der Regionalverwaltung von Cherson in der gleichnamigen Provinzhauptstadt. Auch ein berüchtigter Kontrollpunkt der Besatzer im Stadtteil Ostrow wirkte am Morgen verlassen, wie auf Twitter verbreitete Videos zeigten.
In einer Videobotschaft aus seinem Auto liess Kirill Stremousow von der Besatzungsverwaltung zwar wissen, dass das Leben in der Stadt seinen gewohnten Gang gehe – auf der Rückbank hinter Stremousow lugten allerdings ein gepackter Reiserucksack und andere Habseligkeiten hervor.
In his latest video, Russian-installed Kherson official Kirill Stremousov urges all civilians to "evacuate", but insists that "at the moment everything is fully under control"So why does he appear to be in his car with all his belongings in the back? https://t.co/i3ejZtUqRj pic.twitter.com/0XUvrUZghO— Francis Scarr (@francis_scarr) November 3, 2022
Auf den ersten Blick scheinen es gute Nachrichten für die Bewohner der grössten Stadt unter russischer Kontrolle im Süden der Ukraine zu sein. Doch das Misstrauen gegenüber den Besatzern und die Furcht vor einer Finte der russischen Armee ist gross.
Seit die ukrainische Armee Anfang Oktober mit grossen Geländegewinnen auf die Stadt vorrückte, schicken die Besatzer widersprüchliche Signale. Mitte Oktober rief der Chef der Besatzungsverwaltung, Wladimir Saldo, die Bewohner der Stadt zur Flucht auf. Wenige Tage später teilte Saldo mit, die gesamte Besatzungsverwaltung sei auf das linke Ufer des Dnipro verlegt worden.
Am Dienstag kündigte Saldo schliesslich die «Umsiedlung» von 70'000 Ukrainern an, betroffen seien Menschen in einem 15 Kilometer breiten Streifen am rechten Ufer des Dnipro, also dort, wo die Ukrainer vorrücken könnten.
Doch an einen heimlichen Rückzug der Russen aus der strategisch wichtigen Stadt will die ukrainische Führung nicht glauben. «Die Russen haben ihre besten Truppen in Stellung gebracht, niemand ist abgezogen», sagte jetzt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der italienischen Zeitung «Corriere della Sera».
«Wir sehen es und wir glauben ihnen nicht.» Ähnlich äusserte sich der pensionierte ukrainische General Ihor Romanenko im Sender Al Jazeera: «Die Evakuierung von Zivilisten vom rechten Dnipro-Ufer dient nur der Vorbereitung und der Propaganda. In Wirklichkeit verstärken die Russen ihre Truppen dort mit frischen Soldaten und bereiten sogar eine Gegenoffensive vor.»
Der Verdacht der Ukrainer ist nicht unbegründet, schliesslich arbeiten Kiews Truppen selbst gerne mit List und Täuschung. Im Sommer kündigte die ukrainische Führung mit lautem Getöse eine Gegenoffensive im Süden der Ukraine an, Zivilisten sollten sich in Sicherheit bringen, erklärte Präsident Selenskyj.
Die russische Armee schluckte den Köder und verlegte Truppen aus der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine in den Süden. Dann schlugen die Ukrainer im Nordosten zu und drängten die Russen innerhalb weniger Tage aus der Region Charkiw zurück. Versucht Russland dasselbe jetzt in Cherson?
Nach Rückzug klingt es jedenfalls nicht, wenn die russische Armee zuletzt 1'000 neue Soldaten rechts des Dnipro in Stellung gebracht hat, wie die ukrainische Armee angibt. Auch Bilder in den sozialen Medien legen den Verdacht nahe, dass Putins Truppen sich eher auf einen Verteidigungskampf als auf Rückzug einstellen. So kursierten in den vergangenen Tagen verschiedene Videos von vorgefertigten Betonbunkern auf russischen Lkw im Süden der Ukraine. Dieses Video beispielsweise soll in der Region Cherson entstanden sein:
Russian forces delivering concrete pillboxes in Kherson Oblast. https://t.co/w0vUaLV8nF pic.twitter.com/oNgTrAxmyq— Rob Lee (@RALee85) November 1, 2022
Aufgestellt wurden die mit Schiessscharten versehenen Betonkuben beispielsweise im Ort Hola Prystan zehn Kilometer südlich von Cherson, wie dieses auf Twitter verbreitete Foto zeigen soll:
Mit Sorge blicken – nicht nur die Ukrainer – auch auf die russischen Aktivitäten am Dnipro-Stauwerk in Nowa Kachowka, etwa 80 Kilometer flussaufwärts des Stadtzentrums von Cherson. Der Kreml warf Kiew zuletzt vor, den Damm sprengen zu wollen – und löste damit die Furcht aus, dass Russland eben das plant.
Es ist eine bekannte Masche der russischen Führung, ihren Gegnern vorzuwerfen, was sie selbst plant oder schon getan hat. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstchefs Kyrill Budanow hat die russische Armee den Damm schon im April mit Minen versehen. Zuletzt hätten zusätzlich zwei mit Sprengstoff beladene Lkw an den Dammschleusen Stellung bezogen.
Eine Sprengung des Damms hätte verheerende Folgen. Nach ukrainischen Angaben würden 80 Ortschaften überflutet, Zehntausende Menschen könnten ertrinken. Der Staudamm ist auch zentral für die Wasserversorgung der südlichen Ukraine und versorgt das Kernkraft Saporischschja – mit sechs Meilern das grösste Europas – mit Kühlwasser. Die Sprengung des Damms könnte im schlimmsten Fall also eine Nuklearkatastrophe auslösen, die weite Teile Europas beträfe. Noch gilt die Sprengung des Damms als unwahrscheinlich, da die Flutwelle auch die russischen Stellungen südlich des Dnipro fluten würde.
«Die Frage ist eher, ob die Russen den Damm bei ihrem Rückzug sprengen oder sabotieren werden», schreibt der US-Militärexperte Michael Kofman auf Twitter. «Diese Möglichkeit scheint mir realistischer als das russische Gerede von einer 'schmutzigen Bombe'».
Der Kreml beschuldigte Kiew zuletzt auch, einen Angriff mit solch einem radioaktiv versetzten Sprengsatz vorzubereiten. Kofman leitet die Abteilung für Russland-Forschungen am Center for Naval Analyses in Washington und gilt als einer der besten Kenner der russischen Armee weltweit. Zuletzt war er auf Forschungsreise in der Ukraine, doch aus der Situation in Cherson wird auch er nicht ganz schlau:
«Die Lage ist ziemlich verworren und die Anhaltspunkte sind widersprüchlich. An manchen Stellen ziehen sich die Russen zurück, an anderen verstärken sie ihre Stellungen. Für mich sieht es so aus, als wollten sie sich kontrolliert vom rechten Ufer des Dnipro zurückziehen und dabei vermeiden, vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Die Ukrainer, mit denen ich sprach, waren zuversichtlich, die Russen bis Jahresende vom rechten Dnipro-Ufer vertreiben zu können. Damit würde die ukrainische Langstreckenartillerie nah genug an die Krim heranrücken, um dort russische Nachschubwege anzugreifen.»
Mit dieser Taktik bereiten die Ukrainer schon seit dem Sommer das Schlachtfeld in Cherson vor. Mit ihren Himars-Raketenwerfern haben die Ukrainer Nachschubwege in die Stadt zerstört oder beschädigt. Der Anschlag auf die Krim-Brücke Anfang Oktober hat die Versorgungslage der Russen im Süden der Ukraine weiter verschlechtert.
Noch aber scheint ihnen die Munition nicht auszugehen, wie Michael Kofman feststellt. «Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Kämpfe in der Region über den Winter zum Erliegen kommen werden, auch wenn es zu operativen Pausen kommen kann. Die Ukrainer werden ihren Vorteil an Reichweite und Präzision wohl weiter einsetzen, um die russischen Truppen abzunutzen.»
Vielleicht bringen die einfach nur das Kanonenfutter in Stellung und greiffen dann mit den kampffähigen Truppen aus der zweiten Reihe an.