Diese Enthüllung könnte Jewgeni Prigoschin noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Ende Januar soll der mitteilsame Anführer der Söldnertruppe Wagner dem ukrainischen Militärnachrichtendienst ein ausserordentliches Angebot gemacht haben: Wenn Kiew seine Soldaten aus der umkämpften Kleinstadt Bachmut zurückziehe, dann werde er Informationen über die Position des russischen Militärs liefern. Diese Angaben hätten die Streitkräfte der Ukraine dann nutzen können, um den Gegner anzugreifen.
Nachzulesen ist dieser schier unglaubliche Vorschlag angeblich in den amerikanischen Geheimdepeschen, die ein Nationalgardist aus Massachusetts bis vor einigen Wochen unerlaubterweise auf der Internet-Plattform Discord veröffentlichte. Einige dieser Dokumente beruhen auf abgelauschten Gesprächen in der ukrainischen Führung. Die «Washington Post» publizierte am Sonntag Auszüge aus Dokumenten, die Auskunft über regelmässige Kontakte zwischen Prigoschin und der ukrainischen Streitkräfte geben sollen.
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Demnach beklagte sich der Wagner-Chef über die hohen Verluste in Bachmut und die Nachschubprobleme, mit denen seine Söldnertruppe zu kämpfen hatte. Das ist mittlerweile wohlbekannt, auch weil sich Prigoschin regelmässig in zunehmend wirren Video-Botschaften und Stellungnahmen auf dem Netzwerk Telegram zu Wort meldet. Zuletzt hatte er behauptet, dass die russischen Streitkräfte für den Abschuss von vier russischen Militärmaschinen am Wochenende verantwortlich seien.
Neu ist aber, dass er zu Jahresbeginn bereit war, Russland zu verraten, um seine Söldner im erbittert geführten Kampf um Bachmut zu retten. Im Gespräch mit der «Post» bestätigte ein ukrainische Geheimdienstverantwortlicher die wiederholten Kontakte mit Prigoschin. Schauplatz dieser Unterredungen soll ein afrikanisches Land gewesen sein; Wagner ist auf dem afrikanischen Kontinent in mehreren Staaten präsent.
Kiew aber habe das Angebot des Söldnerchef letztlich zurückgewiesen, weil die Ukrainer ihm nicht trauten und sich nicht sicher waren, ob sein Vorschlag aufrichtig gemeint war. Angeblich teilte Washington diese Zweifel. Aus den Dokumenten geht nicht hervor, ob die Ukraine auf das Gesprächsangebot bloss einging, um die bereits angeschlagene Stellung Prigoschins im Machtapparat von Russlands Präsident Wladimir Putin weiter zu untergraben.
Die «Post» sprach Wolodimir Selenski zu Monatsbeginn auf die Kontakte zum Wagner-Chef an, als mehrere Vertreter der Zeitung den ukrainischen Präsidenten interviewten. Selenski lehnte es aber ab, Auskunft darüber zu geben oder die Echtheit der amerikanischen Geheimdienstdokumente zu bestätigen. In seiner Antwort, die erst am Sonntag publiziert wurde, wirkte Selenski genervt. «Bitte, hören Sie auf, Spiele mit mir zu spielen», sagte er den «Post»-Journalisten. «Ich bin der Präsident eines Landes, das sich im Krieg befindet», und die Veröffentlichung geheimer Informationen «ist nicht gut für unsere Bevölkerung».
Prigoschin wiederum schien am Wochenende auf Telegram zu bestätigen, dass er mit der Führung in Kiew im direkten Kontakt stehe. «Wir haben nichts zu verbergen», schrieb er. Und: Er und der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes «sind immer noch in Afrika».
Noch erstaunlicher, auch die russischen Geheimdienste werden das Wissen, und trotzdem ist Prigoschin noch nicht aus einen Fenster gefallen (vermutlich weil Putin ihn trotz allem noch braucht).