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Interview

ETH-Experte Marcel Berni: «Die Ukraine steckt in einem Dilemma»

Die ukrainischen Soldaten stehen vor einem wegweisenden Sommer.
Die ukrainischen Soldaten stehen vor einem wegweisenden Sommer.
Interview

ETH-Experte Marcel Berni: «Die Ukraine steckt in einem Dilemma»

In den kommenden Wochen wird mit einer ukrainischen Gegenoffensive gerechnet. Strategie-Experte Marcel Berni sagt, wo die stattfinden könnte und ob er eine Rückeroberung der Krim derzeit für möglich hält.
05.05.2023, 06:0106.05.2023, 11:17
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Die Ukrainer sprechen seit Wochen von einer Gegenoffensive. Wann wird sie stattfinden?
Marcel Berni: Das weiss ich nicht. Wir beobachten derzeit eine Art Intermezzo. Die russische Winteroffensive ist weitgehend gescheitert. Die Ukraine hat die Front grösstenteils stabilisieren können, ohne einen russischen Durchbruch hinnehmen zu müssen. Mit Ausnahme der aktuell noch verfolgten russischen Angriffe in Wuhledar, Awdijiwka und Bachmut graben sich die Russen ein und legen statische Verteidigungsfortifikationen an. Die öffentlichen Ankündigungen einer ukrainischen Gegenoffensive haben also bereits Wirkung gezeigt.

Marcel berni
Bild: zvg
Zur Person
Dr. Marcel Berni studierte von 2008 bis 2013 Geschichte, Politikwissenschaft und Ökologie an der Universität Bern. Seit 2014 forscht und lehrt er als wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über kommunistische Gefangene im Vietnamkrieg an der Universität Hamburg. Die Studie, die im Herbst 2020 in überarbeiteter Form erschienen ist, gewann den André-Corvisier-Preis für die beste militärhistorische Dissertation. Im Jahr 2022 vertrat er die Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre.

Worauf wartet die Ukraine noch? Spielt das Wetter eine Rolle?
Ja. Feste und trockene Böden sind für einen schnellen mechanisierten Vorstoss entscheidend. Bei der russischen Invasion im Februar und März 22 war der Boden matschig, weshalb der Angriff relativ schnell erlahmt ist. In den letzten Wochen hat es in der Ukraine geregnet. Das heisst, Kiew wartet derzeit auf bessere Bedingungen. Zudem hat die Ukraine realisiert, dass der künftige Kriegsverlauf von dieser Offensive abhängen wird. Ergo hat sie sich bei der Vorbereitung Zeit gelassen, um frische und unerfahrene Soldaten an neuem Material auszubilden, die Manöverkriegsführung zu schulen sowie die Kriegslogistik für eine oder mehrere grössere Offensivoperationen vorzubereiten.

A Ukrainian soldier carries cannon shells in a trench near Bakhmut, an eastern city where fierce battles against Russian forces have been taking place, in the Donetsk region, Ukraine, Saturday, April  ...
Ein ukrainischer Soldat auf nassem Untergrund in der Nähe von Bachmut.Bild: keystone

Weiss man, wo die Ukraine Vorstösse wagen wird?
Aufgrund der aktuellen Lage sowie öffentlich verfügbaren Quellen sehe ich drei Varianten. Erstens ein direkter Stoss von Saporischschja in Richtung Melitopol und Krim. Zweitens ein Angriff im Osten, das heisst im Donbass. Und drittens ein Aufrollen der Front von Cherson aus. Auch eine Kombination der erwähnten Optionen halte ich für möglich.

Wie könnte diese aussehen?
Zum Beispiel ein erster Angriff im Süden oder Westen mit dem operativen Ziel, einen Keil in die russische Front zu treiben. Eine solche Offensive würde für einen zweiten Schritt neue Möglichkeiten im Norden oder im Westen der Front schaffen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die ukrainische Offensive länger dauert, als im Moment angenommen wird.

«Aufgrund des internationalen Drucks erwarte ich in den nächsten Monaten eine grössere ukrainische Operation.»

Könnte es auch sein, dass die Ukraine letzten Endes gar keine Gegenoffensive durchführt?
Es könnte auch argumentiert werden, dass keine ukrainische Offensive ansteht und Kiew stattdessen den Gegner meisterhaft getäuscht hat. Aufgrund des internationalen Druckes erwarte ich in den nächsten Monaten allerdings eine grössere ukrainische Operation.

Im Oktober 2022 überraschte die Ukraine viele, als sie zunächst nicht wie angekündigt im Süden angriff, sondern im Osten. Werden wir auch dieses Mal eine Finte sehen?
Im Herbst kam es zu zwei Offensiven: Eine überraschende und schnelle Offensive erfolgte bei Charkiw, die zweite hatte das Ziel, Cherson zu befreien. Dabei handelte es sich um eine eher langsame Zerstörung der russischen Versorgungslinien. Derzeit versucht Kiew, eine ähnliche Dynamik wie damals auszulösen. Das heisst, mit einem Mix aus öffentlichen Ankündigungen und Angriffen hinter der Front die russische Führung zu verwirren und zu zwingen, die eigenen Kräfte entlang der gesamten Frontlinie abzustellen. Es könnte bald schon ein ukrainisches Ziel sein, wieder einen konzentrierten Angriff auf einem Flügel vorzutragen, um dann die dadurch geschaffenen Möglichkeiten an einem anderen Bereich der Front auszunützen.

Die Ukrainer haben neue Waffen aus dem Westen erhalten. Unter anderem Leopard-2-Panzer aus Deutschland. Wie gross wird der Einfluss dieser neuen Waffen auf den Kriegsverlauf sein?
Bis heute besitzt die Ukraine keine der geforderten westlichen Kampfflugzeuge. Aber die westlichen Waffen dürften den russischen Systemen in vielen Belangen überlegen sein. Ich denke da an die Bradley-Kampffahrzeuge, die Leopard-2- respektive Challenger-2-Kampfpanzer, Artilleriegeschütze sowie Raketenwerfer samt Munition. Es wird sich zeigen, ob die Ukraine diese Waffen aufeinander abgestimmt zum Einsatz bringen kann.

epa10480254 Soldiers of Ukraine army stand in front of a German Marder tank during a visit by German Defence Minister Boris Pistorius (not pictured) to military training area in Munster, Germany, 20 F ...
Ukrainische Soldaten vor einem Marder-Schützenpanzer in Münster, Deutschland. Bild: keystone

Die Ukrainer hatten nur wenig Zeit, um sich vorzubereiten und das neue Material kennenzulernen. Ist es nicht zu früh für eine Gegenoffensive?
Die Ukraine steckt in einem Dilemma: Auf der einen Seite braucht sie Zeit, die eigenen Soldaten an neuen Waffen auszubilden und weitere Hilfe für sich zu reklamieren. Auf der anderen Seite drückt der Westen darauf, dass sie wieder in die Offensive geht und Erfolge erzielt. Nur so kann die Versorgung sichergestellt und der westlichen Kriegsmüdigkeit entgegengewirkt werden. Die strategische Herausforderung für Kiew besteht derzeit darin, beide Ansprüche unter einen Hut zu bringen.

Die Ukrainer haben zwar neues Material. Aber wie sieht es aus mit Personal? Gehen ihnen nicht langsam die Kämpfer aus?
Darüber liegen nur wenige Informationen vor. Fest steht, dass auch die Ukraine einen hohen Blutzoll hinzunehmen hat. Das Mobilisierungspotential erschöpft sich zunehmend und die Humanressourcen müssen geschont werden. Egal wie eine mögliche ukrainische Offensive endet, es wird dabei zu weiteren menschlichen und materiellen Verlusten kommen. Nach den letzten Offensiven bei Charkiw und Cherson konnte die Ukraine die Euphorie nicht ausnutzen. Statt weiter vorzustossen, mussten die eigenen Kräfte aufgefrischt werden.

«Im Vergleich zur Ukraine ist Russland ein untergehendes Imperium, das noch immer über Reserven verfügt.»

Auf der Gegenseite wirft Russland seit Monaten Tausende schlecht ausgerüstete Soldaten in den Kampf. Gemäss US-Angaben wurden seit Dezember 100'000 Personen getötet oder verletzt. Wie lang kann Russland diese Taktik noch durchziehen?
Wer hätte zu Beginn des Krieges gedacht, dass Russland bereit ist, derart hohe Verluste in Kauf zu nehmen? Im Vergleich zur Ukraine ist Russland ein untergehendes Imperium, das noch immer über Reserven verfügt. Ich kann mir vorstellen, dass Moskau dieses verlusttolerante Vorgehen weiterverfolgt – mangels Alternativen.

Damaged buildings in Bakhmut, the site of the heaviest battles with the Russian troops in the Donetsk region, Ukraine, Wednesday, April 26, 2023. (AP Photo/Libkos)
Verwüstete Gebäude in Bachmut: Im Kampf um die Stadt hat Russland Tausende Soldaten verloren.Bild: keystone

Wie steht es um das Material der Russen? Haben sie noch kampffähige Panzer? Auch bei der Artilleriemunition gibt es Nachschubprobleme, wie sich Prigoschin unlängst beschwerte ...
Berichte über russische Materialengpässe begleiten uns seit Längerem. Die vom Westen verhängten Sanktionen haben die russische Kriegsmaschinerie bisher nicht zum Stillstand gebracht. Vielmehr kam es zu innerrussischen Materialstreitigkeiten zwischen der Gruppe Wagner und den regulären russischen Streitkräften. Ich weiss nicht, über wie viele kampffähige Panzer Russland noch verfügt. Fest steht, dass ein grosser Teil davon in der Ukraine zerstört wurde.

Wäre Russland im Moment in der Lage, um seinerseits eine Offensive durchzuführen?
Ich sehe derzeit kein Offensivpotential auf russischer Seite. Dafür wäre wohl eine weitere russische Mobilisierungswelle nötig.​

Was trauen Sie den Ukrainern zu? Werden sie sich im Sommer die Krim zurückholen?
Ich glaube an die Erfolgschancen einer ukrainischen Offensive. Die Frage ist, an welchen Zielen sie einst gemessen wird. Die Rückeroberung der Krim wäre ein sehr grosser ukrainischer Triumph, den ich mir im Moment noch nicht vorstellen kann.

«Wir wurden von den Russen beschossen» – Schweizer Kriegsfotograf erzählt

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74 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Die Stimme des stillen Lesers
05.05.2023 07:58registriert November 2021
Egal wie die Geschichte ausgeht: Die Ukrainer:innen werden geprägt sein von diesem Krieg. Ihre Armee wird so schnell nicht mehr an Bedeutung verlieren und das Volk wird anderen Staaten wacher und kritischer gegenüberstehen.
Ich wünsche ihnen die wohlverdiente Freiheit und trotz allem die Fähigkeit, das Gute im Menschen zu sehen.
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Posersalami
05.05.2023 07:40registriert September 2016
"Die Rückeroberung der Krim "

Muss man die Krim denn überhaupt militärisch zurückerobern? Wenn es gelingt bis ans Asowsche Meer vorzustossen sollte die Krimbrücke ja in Reichweite von HIMARS sein und dann ist es nur eine Frage von Stunden / Tagen, bis die Krimbrücke geschichte ist. Die Krim wäre dann nur noch über den Seeweg zu versorgen. Ich glaube kaum, das die Russen die 2mio Einwohner + Militär mit Schiffen versorgene können.. Russland müsste wohl über kurz oder lang in Verhandlungen eintreten.
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Tobias W.
05.05.2023 08:11registriert Januar 2017
Ich bin gespannt, was in Russland abgehen wird…wenn die Russen irgendwann die Wahrheit erfahren und sehen werden, in was für eine katastrophale und traurige Lage ihr Land geführt wurde.

Für jeden Liter Öl und jeden Kubikmeter Gas — alles, für das wir eine Alternative finden mussten, werden wir nie mehr von Russland kaufen. Und von der schönen Welt in Europa und USA werden sie nicht mehr Teil sein - durch Hass getrennt.

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