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Ukraine

Ein Besuch an der ukrainischen Kriegsfront

Besuch an der Kriegsfront: Oksana ist der einzige Mensch, der noch im Dorf lebt

Oksana leitet Informationen an den Geheimdienst weiter, Vitali inspiziert Positionen und Sergej steuert die Aufklärungsdrohne. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen an der Südfront bei Cherson um ihr Land, wie die aktuelle Reportage von Kriegsreporter Kurt Pelda zeigt.
02.10.2022, 08:10
Kurt Pelda, Oblast Mikolajew / ch media
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Ein zerstörtes Haus an der Front in der Südukraine.
Ein zerstörtes Haus an der Front – in einem verlassenen Dorf. Bild: AZ

Oksana ist eine Heldin. Sie wehrt sich zwar dagegen, so genannt zu werden, aber alle, die sie kennen, halten sie für einen Menschen, der bereit ist, sich aufzuopfern. Oksana ist 47 Jahre alt, sie trägt einen schwarzen Trainingsanzug, und das Gesicht wird eingerahmt von glatten, schwarzen Haaren, schulterlang.

Informationen weitergeleitet – trotz grosser Risiken

Die Frau ist der einzige Mensch, der noch im Dorf lebt. Alle anderen Zivilisten sind geflüchtet. Als die Russen im März den Süden der Ukraine überrannten, geriet mit der Zeit auch Oksanas Dorf in die russisch kontrollierte Zone. Aber die Frau blieb, verkaufte weiter Kaffee, Süssigkeiten, Coca-Cola, Würste und Zigaretten in ihrem kleinen Dorfladen. Und hörte genau zu, was die russischen Offiziere erzählten, die bei ihr einkauften und vor dem Laden rauchten. Was davon interessant war, leitete sie an die ukrainischen Militärgeheimdienst weiter.

Wäre sie erwischt worden, hätte man sie verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und am Schluss getötet. Darum ist Oksana eine Heldin für die Ukrainer.

Im Osten sind die ukrainischen Soldaten auf dem Vormarsch. Ganz anders die Situation im Süden. Die Frontlinie bleibt umkämpft, trotz leichter Gebietsgewinne der Ukrainer.

Direkt an der Ecke des kleinen Supermarkt wurde ein zweites Haus angebaut. Wenn Oksana aus dem Laden tritt, liegt dieses Gebäude zu ihrer Linken. Direkt vor ihr befindet sich ein Platz und zu ihrer Rechten verläuft eine Landstrasse.

Von heftigen Explosionen geweckt

Diese Konstellation hat Oksana das Leben gerettet. Sie verbringt die Nächte in einem Nebenraum des Supermarkts. Lange nachdem die Ukrainer das Dorf zurückerobert hatten, wurde Oksana im Schlaf durch heftige Explosionen geweckt. Schrapnelle flogen durch die Fenster des Lagerraums und hinterliessen Löcher in den Wänden. Sie stammen von einer russischen Rakete, die auf der anderen Seite der Landstrasse einschlug.

Ein weiteres Geschoss ging hinter Oksanas Supermarkt nieder, und ein drittes direkt vor dem Nebengebäude. Dort klafft nun ein riesiger Krater im Erdreich, nur wenige Schritte vom Eingang des Ladens entfernt. Weil das Nebengebäude den Supermarkt abschirmte, gingen Druckwelle und Splitterhagel grösstenteils am Laden vorbei. Und genau deswegen ist Oksana jetzt noch am Leben – und kann uns ihre Geschichte erzählen. Vorsichtshalber hat sie inzwischen einen grossen Teil ihrer Fenster zumauern lassen.

Obwohl Alkohol in den ukrainischen Kampfgebieten verboten ist, lädt uns die Frau in den Lagerraum ein und schliesst die Tür. Sie schneidet eine Orange in mehrere Stücke, ausserdem ein grosses Stück fetten Specks. Auf einem dritten Teller liegen eingelegte Fischstücke und frisch geschnittene Zwiebelringe. All das kredenzt Oksana zu einem Brandy, den sie im Plastikbecher serviert.

Das Frontgebiet rund um die südukrainische Stadt Cherson.
Der aktuelle Grenzverlauf rund um die Stadt Cherson.Bild: AZ

Auf der Landstrasse vor dem Laden herrscht viel Verkehr. Von der Front her kommen Ambulanzen mit Verwundeten, hupend und in rasendem Tempo. Dann und wann werden auch defekte oder in den Kämpfen beschädigte Panzer und Fahrzeuge abgeschleppt und zu Reparaturwerkstätten im Hinterland gebracht, darunter ein Schützenpanzer, der eine seiner Raupenketten verloren hat.

Es sind alles uralte sowjetische Modelle, eigentlich Blechsärge auf Panzerketten. Hätten die Ukrainer moderne Kampf- und Schützenpanzer aus dem Westen erhalten, stünden sie hier an der Front von Cherson schon längst am westlichen Ufer des Dnjepr.

Geschlafen wird in Bunkern und Gruben im Boden

Nur wenige Kilometer entfernt verläuft eine der Hauptschlagadern des ukrainischen Nachschubs an der Südfront. Den ganzen Tag und auch in der Nacht bringen schwere Lastwagen Treibstoff, Nahrungsmittel und Munition, darunter 155-Millimeter-Granaten für die westlichen Haubitzen der Ukrainer.

Transportiert werden auch so genannte Excalibur-Geschosse. Benannt nach dem sagenhaften Schwert von König Arthur, haben diese dank eines zusätzlichen Raketentriebwerks eine Reichweite von mehr als 40 Kilometern. Sie verfügen über ein Satellitennavigationssystem und können sich mit ihren ausfahrbaren kleinen Leitwerken punktgenau auf das einprogrammierte Ziel steuern. Akustisch sind die Excalibur-Geschosse leicht zu erkennen: Bei ihnen gibt es nicht nur den Abschussknall wie bei anderen Granaten. Hoch oben am Himmel – unsichtbar für die Augen – folgt dann ein gut hörbares Fauchen, wenn der Raketenmotor zündet.

Ukrainische Soldaten feuern Granaten in Richtung der russischen Frontlinie.
Ukrainische Soldaten feuern Granaten in Richtung der russischen Stellungen.Bild: AZ

In der Ebene am Dnjepr-Fluss regnet es nun immer häufiger, und es wird auch kühler. Bald beginnt die Schlammsaison, und dann haben Autos mit Strassenreifen keine Chance mehr. Keine Chance heisst hier: Sie werden zum tödlichen Risiko für die Insassen, denn im flachen Gelände möchte niemand zu lange im Freien stehen. Häufig müssen sich die Soldaten Geländereifen und Ersatzteile für ihre Autos aber selbst besorgen.

Vitali, ein muskulöser Offizier, hat zum Beispiel sein eigenes Fahrzeug für 10’000 US-Dollars verkauft und mit dem Geld zehn alte russische Geländewagen auf Vordermann bringen lassen. So geht es vielen Soldaten: Wer einen wärmeren Schlafsack braucht als den, der von der Armee zur Verfügung gestellt bekommt, muss sich privat einen ergattern.

Häufig sammeln Familie und Freunde Geld, um ihre Liebsten an der Front mit dem Nötigsten zu versorgen. Geschlafen wird in Bunkern, Gruben im Boden, die mit Baumstämmen, Sandsäcken und frisch abgeschnittenen Zweigen zur Tarnung abgedeckt sind.

Sobald es regnet, verwandeln sich die Pisten in Morast. Die berühmte, fruchtbare schwarze Erde der Ukraine wird dann zu einem weichen, seifigen Untergrund, in dem man selbst mit guten Stiefeln Mühe hat, sich fortzubewegen. Vitali, der Offizier, fährt mit seinem maroden Geländewagen und Strassenpneus über eine solche Schlammpiste. An manchen Stellen schlittert das Auto vom einen Wegrand zum andern und wieder zurück.

Das Motto lautet: Ständig in Bewegung bleiben

Wir sind jetzt sehr nah bei der Front. Das erkennt man einerseits, weil die Bauern es hier nicht mehr gewagt haben, ihren Weizen zu ernten. Der verrottet nun auf den Feldern. Anderseits stecken häufig Heckstücke mächtiger russischer Raketen im Boden. Es ist eine liebliche Landschaft mit Äckern, Wäldern und Wasserläufen, wären da nicht die zerstörten Bauerndörfer und die ausgebrannten oder zerschossenen Fahrzeugwracks am Wegrand.

Ein Soldat mit einer Drohne: Diese spielen eine wichtige Rolle an der Front.
Ein Soldat mit einer zivilen Drohne: Diese spielen eine wichtige Rolle an der Front.Bild: AZ

Vitali hat einen Auftrag, er muss bestimmte Positionen inspizieren und seinen Vorgesetzten Bericht erstatten. Darum fahren wir weiter. «Hier auf diesem Weg können uns die russischen Drohnen sehen», sagt er, während er einem ukrainischen Schützenpanzer ausweicht. «Die Piloten sind nur ein paar wenige Kilometer entfernt.»

Das verheisst nichts Gutes, denn wenn die Russen ein lohnendes Ziel sehen, dauert es nicht lange, bis Artilleriegranaten herüber fauchen. Das Motto lautet deshalb: ständig in Bewegung bleiben. Vom Abfeuern eines Geschützes bis zum Aufschlag der Granate dauert es laut Vitali rund 15 Sekunden.

Auf dem Rückweg sehen wir ein Beobachtungstrupp, der in einem Gebüsch neben der Piste in Stellung geht. Weil es hier kein Mobilfunknetz gibt, haben die Soldaten einen grauen Karton mit der Aufschrift «Starlink» und einen kleinen Benzingenerator dabei. Mit den kleinen Satellitenschüsseln des Unternehmers Elon Musk lassen sich im Freien Internet-Verbindungen aufbauen, für die Übertragung von Informationen und Bildern, aber auch zum Steuern von Drohnen.

Die Antwort der Russen lässt nicht lange auf sich warten

Zivile Drohnen mit Videokameras spielen eine überragende Rolle, an allen Fronten des Kriegs und auf beiden Seiten. In einem kleinen Bauerndorf, in dem praktisch jedes Haus beschädigt oder zerstört ist, haben die Ukrainer Stellungen für schwere 120-Millimeter-Granatwerfer eingerichtet. In einem Kommandoposten sitzt ein Offizier vor einem Tablet-Computer. Er schaut sich die Satellitenkarte der ukrainischen Armee an, rechnet daneben in einem Heft und versucht, eine russische Artilleriestellung jenseits der Front zu identifizieren. Sie soll sich in einem Wald befinden.

Eine abgefeuerte Granatenhülse.
Die Hülse einer – bereits abgefeuerten – Granate.Bild: AZ

Dort, wo der Kommandant die russische Position vermutet, hat er auf der Karte ein rotes Kreuz eingezeichnet. Die Distanz beträgt 6’500 Meter. Bei der Identifikation von Zielen helfen ihm die Drohnenpiloten am Dorfrand: Sie versorgen den Kommandoposten mit Bildern von der Gegenseite.

Sergej, einer der Piloten, zeigt mir auf seinem Steuerbildschirm, was die Drohnenkamera gerade aufnimmt. Es sind herumrennende Soldaten im Wald. «In dem Wald sind viele von ihnen, wir schätzen an die Tausend», erklärt er. Es seien auch Tschetschenen unter den gegnerischen Kämpfern.

Immer, wenn sich eine gute Gelegenheit bietet, werden Zielkoordinaten an die Stellungen der Granatwerfer durchgegeben. Die Soldaten richten die Rohre aus, machen die schweren Granaten bereit und feuern sie dann nach einem Warnruf ab. Pilot Sergej sieht kurz danach auf dem Bildschirm ein Feuer in der Nähe einer Strasse. Schwarzer Qualm steigt auf.

Es ist aber nicht klar, was da genau getroffen wurde. Jedenfalls lässt die Antwort der Russen nicht lange auf sich warten. Wir hören die Abschüsse, und kurz darauf pfeifen Granaten über unsere Köpfe. Manche schlagen auf Wiesen in der Nähe ein, andere weit ausserhalb des Dorfs.

Die letzte zivile Bewohnerin, die sich weigerte, das Dorf zu verlassen, wurde von so einer Granate in ihrem Garten getötet. Ebenso ein Hund, der auf der mit Granattrichtern übersäten Hauptstrasse verwest. Einzig eine fette Sau lässt sich von dem Geballer nicht beeindrucken. Auf der Suche nach Essbarem streift sie in aller Ruhe durch das zerschossene Dorf. In der Nacht macht sie es sich in einer der vielen Ruinen gemütlich. Besser als im Schweinestall. (aargauerzeitung.ch)

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26 Kommentare
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kleine_lesebrille
02.10.2022 10:15registriert Mai 2022
Guter Artikel, der schonungslos aufzeigt, wie es an der Front zu und her geht.

Und Bundeskanzler Scholz sollte den Hinweis im Artikel genau lesen, wonach moderne Kampf- und Schützenpanzer es der Ukraine ermöglichen würden, schneller vorzustossen. Denn mit Worten alleine (egal ob die Worte gegen Moskau, aber für Kyiv sind), ist der ukrainischen Armee nicht geholfen. Und den Menschen, die immer noch unter den widerlichen Besatzern leiden, ist auch nicht geholfen. Denn moderne Waffen helfen, Menschen zu befreien; zumindest trifft dies in der Ukraine eindeutig zu.
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Beat_
02.10.2022 10:19registriert Dezember 2018
Ich weiss nicht, ob ich traurig oder wütend bin.
Aber dem Teufel in Moskau sollten endlich die Lichter ausgehen.
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DerSchöneVomLande
02.10.2022 09:32registriert Mai 2019
"Wäre sie erwischt worden, hätte man sie verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und am Schluss getötet. Darum ist Oksana eine Heldin für die Ukrainer." Um genanntes erleben zu müssen muss man nicht mal Infos an den Geheimdienst weiterleiten, um sowas zu erleben muss man in diesem Krieg nur UkrainerIn sein. Zeigt einem einmal wiedrr, die waren Nazis hocken in Russland
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