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Ukraine

Kindheit im Schutzkeller – eine ukrainische Mutter erzählt

Oleksandra Kikot ist dreieinhalb Jahre alt und spielt im Luftschutzkeller des Kindergartens von Dykanka (Ukraine, Region Poltawa). Das Mädchen war bei Ausbruch des russischen Angriffskrieges sieben Mo ...
Nur jedes dritte Kind in der Ukraine kann normal die Schule besuchen.Bild: Luzia Tschirky

Die Kindheit im Schutzkeller – eine ukrainische Mutter erzählt

Der russische Angriffskrieg beraubt die jüngste Generation der Ukraine ihrer Zukunft. Die frühere SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky berichtet aus einem «Schulbunker» in der Zentralukraine.
22.02.2025, 21:3622.02.2025, 21:36
Luzia tschirky, Dikanka (ukraine)
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«Kochst du dem Hund etwas zu essen?», fragt Marina Kikot und schiebt den hellblauen Spielzeughund auf kleinen Rollen ihrer Tochter zu. Die dreieinhalbjährige Oleksandra stösst das Spielzeug ihrer Mutter zurück, zeigt auf eine Reihe von bunten Duplo-Klötzen und sagt: «Er soll im Häuschen warten!»

Mutter und Tochter sitzen knapp 300 Kilometer östlich von der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw im Luftschutzkeller des Kindergartens «Marienkäfer» in der Ortschaft Dikanka. Zwischen den 7500 Einwohner des Ortes und der Front liegen zurzeit 145 Kilometer Luftlinie. In Gefahr sind Mutter und Tochter trotz der Distanz. Denn die russische Armee greift die gesamte Ukraine mit Raketen an, die über tausende von Kilometern fliegen können.

Luftschutzkeller ist vorgeschrieben

Seit Ende des Kalten Krieges hat sich in der Ukraine niemand über die Instandhaltung von Luftschutzkellern Gedanken gemacht. Jetzt gehört der Schutzkeller per Gesetz zur Grundausstattung jeder Schule und jedes Kindergartens in der Ukraine, ansonsten dürfen in den Gebäuden keine Kinder betreut werden.

Die Kinder in Dikanka haben Glück im Unglück. Die Kindergärten und Schulen der Ortschaft verfügen im Unterschied zu anderen Orten über Luftschutzkeller. Wo diese noch fehlten, müssen sie erst noch gebaut werden.

Der Eingang zum Luftschutzkeller im Kindergarten von Dykanka (UKR, Region Poltawa) von aussen fotografiert.
Der Eingang zum Luftschutzkeller des Kindergartens.Bild: Luzia Tschirky

Für 4,6 Millionen Kinder ist gemäss den ukrainischen Behörden der Zugang zu Bildung durch den russischen Angriffskrieg weiterhin erschwert. Für zwei Millionen Kinder in der Ostukraine bleiben Kindergärten und Schulen aufgrund der Bedrohungslage ganz geschlossen, und sie werden auch fast drei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges noch immer online unterrichtet.

Am Tag meines Besuches in Dikanka ist für die gesamte Region von Poltawa ein erhöhtes Risiko eines Luftangriffs ausgerufen worden. Eine solche Warnung ist in dieser Gegend der Ukraine selten. An diesem Tag bleiben auch hier Kindergärten und Schulen wegen der Warnung geschlossen. Ausser mir, Marina, ihrer Tochter und den Mitarbeiterinnen des Kindergartens ist niemand im Schutzkeller.

Marina ist in Dikanka aufgewachsen und arbeitet in der Gemeindeverwaltung. Den Mitarbeiterinnen des Kindergartens half sie bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Renovation und Ausstattung des Schutzkellers. Ein Teil der Kosten übernahm die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas.

Schweizer Hilfe in der Ukraine
Helvetas ist eine Schweizer Non-Profit-Organisation für Entwicklungs-Zusammenarbeit und humanitäre Hilfe, die sich seit 70 Jahren für armutsbetroffene Menschen einsetzt. Die NGO leistet in 35 Ländern Hilfe zur Selbsthilfe – auch in der Ukraine, wo sie Menschen unterstützt, denen sonst niemand helfen kann.

Dazu arbeitet Helvetas mit ukrainischen Organisationen zusammen, die kriegsbeschädigte Gebäude und Wassersysteme reparieren und besser isolieren, sodass die Bedürftigen die harten Winter überstehen können. Und man stellt Bombenschutzräume für Schulen zur Verfügung, damit die Kinder auch bei Alarm und Angriffen unterrichtet werden können.

Sorgen ukrainischer Eltern

Während Marinas Tochter Oleksandra am Herd der Spielküche in einem Topf mit bunten Steinchen rührt, beginne ich ihrer Mutter Fragen zu stellen. Über das Leben in einem Land, welches seit fast drei Jahren Tag für Tag angegriffen wird. «Ich habe in den ersten Tagen hin und her überlegt: Sollten wir das Land verlassen? Oder doch bleiben?», erzählt mir Marina. Sie entschied sich, zu bleiben.

Die 33-Jährige hebt den Blick zur Decke in der Hoffnung, die Tränen zurückhalten zu können. Als sie von leeren Regalen in den Apotheken erzählt, wird es ihr zu viel. Ihre Tochter spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Oleksandra tröstet ihre Mutter:

Video: watson

Oleksandra breitet ihre Arme zu einer Umarmung aus und wischt ihrer Mutter die Tränen aus dem Gesicht. «Lass uns schauen, ob der Hund nicht Hunger hat», versucht Marina ihre Tochter abzulenken.

Kinder sind im Krieg Quelle von Hoffnung und Sorge gleichermassen. Der Mann von Marina, Oleksandras Vater, dient seit 2015 in der ukrainischen Armee.

«Es sterben so viele junge Leute, darunter auch Bekannte von mir.»
Marina

Marina teilt die Sorge um ihren Mann mit hunderttausenden Frauen in der Ukraine. Von den 1,3 Millionen Angehörigen der ukrainischen Armee ist die grosse Mehrheit Männer. Dank des Schutzkellers muss Marina sich wenigstens um Oleksandra weniger Sorgen machen und kann zum Einkommen der Familie etwas beitragen: «Statt allein zu Hause mit den eigenen Problemen zu sitzen, können wir arbeiten gehen und etwas Nützliches tun.»

Mittagspausen im Luftschutzkeller

Oleksandra gehört zu einer Generation von Kindern in der Ukraine, die sich gar nicht mehr an ein Leben ohne Luftalarm erinnern kann. Bei Ausbruch des russischen Angriffskrieges war Oleksandra sieben Monate alt. Ein normaler Alltag im Kindergarten ist trotz des Schutzkellers in Kriegszeiten nicht möglich.

Oleksandra Kikot ist dreieinhalb Jahre alt und spielt im Luftschutzkeller des Kindergartens von Dykanka (Ukraine, Region Poltawa). Das Mädchen war bei Ausbruch des russischen Angriffskrieges sieben Mo ...
Oleksandra war bei Ausbruch des russischen Angriffskrieges sieben Monate alt. Ihr Vater kämpft als Soldat in der ukrainischen Armee.Bild: Luzia Tschirky

«Es ist das Schwierigste für uns, wenn wir die kleinen Kinder während des Mittagsschlafes wegen Luftalarm wecken müssen», erzählt mir die Direktorin Oleksandra Borodaj später in ihrem Büro. Es gibt zu wenig Personal, um alle Kinder innert weniger Minuten schlafend in Sicherheit zu tragen. Die Kinder müssen aufstehen und zu Fuss in den Keller steigen. Die Tür zum Keller und die Lampen an der Decke wurden ausgewechselt.

Oleksandra Borodajew ist Direktorin des Kindergartens von Dykanka /(Ukraine, Region Poltawa). Der Kindergarten von Dykanka wurde von Helvetas finanziell unterstützt, damit für den Luftschutzkeller des ...
Oleksandra Borodajew ist die Leiterin des Kindergartens von Dikanka.Bild: Luzia Tschirky

Eine Mitarbeiterin hat zwei Friedenstauben an die Wand gemalt, in den Farben der ukrainischen Flagge gelb-blau. Zwei Wochen nach meinem Besuch in Dikanka greift die russische Armee die nahegelegene Stadt Poltawa mit Raketen an. 14 Leute sterben. Darunter vier Kinder, zwischen drei Monaten und 12 Jahren alt.

Zur Person
Luzia Tschirky, Jahrgang 1990, berichtete ab 2019 als Korrespondentin für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) aus Russland und anderen postsowjetischen Ländern. Mit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine wurde sie Kriegsreporterin. 2023 hat sie sich beruflich unabhängig gemacht und ihr erstes Buch veröffentlicht. Als Expertin für die Ukraine, Russland, Belarus und den russischen Angriffskrieg hält sie auch Referate für Schulen, Behörden, Unternehmen und Vereine. Und sie betreibt einen Podcast.
Luzia Tschirky im Februar 2025 im zentralukrainischen Ort Dikanka.
Tschirky im Februar 2025 in Dikanka.Bild: Luzia Tschirky

Die Ukraine-Reise von Luzia Tschirky wurde durch die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas ermöglicht.

Quellen

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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Wolfgang Bumbuy
22.02.2025 23:04registriert November 2024
Eigentlich dachte ich wir hätten ein klein wenig kapiert, vielleicht auch nur gehofft.
Ich bin jetzt bald Pensionist, mein ganzes Leben war Frieden um uns herum.
Was für eine scheiss Welt hinterlassen wir den jungen Leuten.
Sorry, wir haben versagt .
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The Guitar Player
23.02.2025 01:25registriert Oktober 2023
putin raubt nicht nur ukrainische Kinder in den bedetzten Gebieten, um sie mit Zwang zu russifizieren, sondern er raubt den anderen Kindern auch ihre Kindheit. Und immer noch gibt es Menschen wie trump und orban, die solche Verbrechen komplett ignorieren und so tun, als putin ein ganz normaler demokratisch gewählter Präsident wäre, der die Menschenrechte und internationales Völkerrecht respektiert. Es ist zum Heulen, aber niemand gibt sich die Mühe, diesen Kriegsverbrecher endlich nach den Haag zu bringen.
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Badener
23.02.2025 03:29registriert März 2017
Luzia macht seit Anfang einen hervorragenden Job, die Realität unerträglich kommuniziert Sie sachverständig und ausgeglichen.

Danke dafür!
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