«Kochst du dem Hund etwas zu essen?», fragt Marina Kikot und schiebt den hellblauen Spielzeughund auf kleinen Rollen ihrer Tochter zu. Die dreieinhalbjährige Oleksandra stösst das Spielzeug ihrer Mutter zurück, zeigt auf eine Reihe von bunten Duplo-Klötzen und sagt: «Er soll im Häuschen warten!»
Mutter und Tochter sitzen knapp 300 Kilometer östlich von der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw im Luftschutzkeller des Kindergartens «Marienkäfer» in der Ortschaft Dikanka. Zwischen den 7500 Einwohner des Ortes und der Front liegen zurzeit 145 Kilometer Luftlinie. In Gefahr sind Mutter und Tochter trotz der Distanz. Denn die russische Armee greift die gesamte Ukraine mit Raketen an, die über tausende von Kilometern fliegen können.
Seit Ende des Kalten Krieges hat sich in der Ukraine niemand über die Instandhaltung von Luftschutzkellern Gedanken gemacht. Jetzt gehört der Schutzkeller per Gesetz zur Grundausstattung jeder Schule und jedes Kindergartens in der Ukraine, ansonsten dürfen in den Gebäuden keine Kinder betreut werden.
Die Kinder in Dikanka haben Glück im Unglück. Die Kindergärten und Schulen der Ortschaft verfügen im Unterschied zu anderen Orten über Luftschutzkeller. Wo diese noch fehlten, müssen sie erst noch gebaut werden.
Für 4,6 Millionen Kinder ist gemäss den ukrainischen Behörden der Zugang zu Bildung durch den russischen Angriffskrieg weiterhin erschwert. Für zwei Millionen Kinder in der Ostukraine bleiben Kindergärten und Schulen aufgrund der Bedrohungslage ganz geschlossen, und sie werden auch fast drei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges noch immer online unterrichtet.
Am Tag meines Besuches in Dikanka ist für die gesamte Region von Poltawa ein erhöhtes Risiko eines Luftangriffs ausgerufen worden. Eine solche Warnung ist in dieser Gegend der Ukraine selten. An diesem Tag bleiben auch hier Kindergärten und Schulen wegen der Warnung geschlossen. Ausser mir, Marina, ihrer Tochter und den Mitarbeiterinnen des Kindergartens ist niemand im Schutzkeller.
Marina ist in Dikanka aufgewachsen und arbeitet in der Gemeindeverwaltung. Den Mitarbeiterinnen des Kindergartens half sie bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Renovation und Ausstattung des Schutzkellers. Ein Teil der Kosten übernahm die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas.
Während Marinas Tochter Oleksandra am Herd der Spielküche in einem Topf mit bunten Steinchen rührt, beginne ich ihrer Mutter Fragen zu stellen. Über das Leben in einem Land, welches seit fast drei Jahren Tag für Tag angegriffen wird. «Ich habe in den ersten Tagen hin und her überlegt: Sollten wir das Land verlassen? Oder doch bleiben?», erzählt mir Marina. Sie entschied sich, zu bleiben.
Die 33-Jährige hebt den Blick zur Decke in der Hoffnung, die Tränen zurückhalten zu können. Als sie von leeren Regalen in den Apotheken erzählt, wird es ihr zu viel. Ihre Tochter spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Oleksandra breitet ihre Arme zu einer Umarmung aus und wischt ihrer Mutter die Tränen aus dem Gesicht. «Lass uns schauen, ob der Hund nicht Hunger hat», versucht Marina ihre Tochter abzulenken.
Kinder sind im Krieg Quelle von Hoffnung und Sorge gleichermassen. Der Mann von Marina, Oleksandras Vater, dient seit 2015 in der ukrainischen Armee.
Marina teilt die Sorge um ihren Mann mit hunderttausenden Frauen in der Ukraine. Von den 1,3 Millionen Angehörigen der ukrainischen Armee ist die grosse Mehrheit Männer. Dank des Schutzkellers muss Marina sich wenigstens um Oleksandra weniger Sorgen machen und kann zum Einkommen der Familie etwas beitragen: «Statt allein zu Hause mit den eigenen Problemen zu sitzen, können wir arbeiten gehen und etwas Nützliches tun.»
Oleksandra gehört zu einer Generation von Kindern in der Ukraine, die sich gar nicht mehr an ein Leben ohne Luftalarm erinnern kann. Bei Ausbruch des russischen Angriffskrieges war Oleksandra sieben Monate alt. Ein normaler Alltag im Kindergarten ist trotz des Schutzkellers in Kriegszeiten nicht möglich.
«Es ist das Schwierigste für uns, wenn wir die kleinen Kinder während des Mittagsschlafes wegen Luftalarm wecken müssen», erzählt mir die Direktorin Oleksandra Borodaj später in ihrem Büro. Es gibt zu wenig Personal, um alle Kinder innert weniger Minuten schlafend in Sicherheit zu tragen. Die Kinder müssen aufstehen und zu Fuss in den Keller steigen. Die Tür zum Keller und die Lampen an der Decke wurden ausgewechselt.
Eine Mitarbeiterin hat zwei Friedenstauben an die Wand gemalt, in den Farben der ukrainischen Flagge gelb-blau. Zwei Wochen nach meinem Besuch in Dikanka greift die russische Armee die nahegelegene Stadt Poltawa mit Raketen an. 14 Leute sterben. Darunter vier Kinder, zwischen drei Monaten und 12 Jahren alt.
Die Ukraine-Reise von Luzia Tschirky wurde durch die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas ermöglicht.
Ich bin jetzt bald Pensionist, mein ganzes Leben war Frieden um uns herum.
Was für eine scheiss Welt hinterlassen wir den jungen Leuten.
Sorry, wir haben versagt .
Danke dafür!