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Ukraine

So ist es in den letzten 40 Jahren zu Waffenstillständen gekommen

Was braucht es für einen Waffenstillstand? Leider zu oft erst blutige Schlachtfelder

Konfliktforscher der ETH Zürich und aus Schweden haben weltweit untersucht, wie und warum es in den letzten 40 Jahren zu Waffenstillständen gekommen ist. Die Ukraine ist davon noch entfernt.
09.11.2022, 12:19
Bruno Knellwolf / ch media
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Ende Juni forderten deutsche Prominente einen Waffenstillstand in der Ukraine und Friedensverhandlungen mit Wladimir Putin. Da Verhandlungen mit Putin alles andere als realistisch sind, wurden die Philosophen und Schriftstellerinnen, die den offenen Brief unterzeichnet hatten, denn auch arg kritisiert.

A firefighter works at the scene of a damaged residential building after Russian shelling in the liberated Lyman, Donetsk region, Ukraine, Monday, Nov. 7, 2022. (AP Photo/Andriy Andriyenko)
Die Zerstörung in der Ukraine geht weiter wie hier in Lyman.Bild: keystone

Weil Gleiches zuvor auch schon Alice Schwarzer geforderte hatte, schimpfte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk: «Nicht schon wieder, was für ein Haufen pseudo-intellektueller Versager.» Und der Militärexperte Carlo Masala twitterte: «Der nächste Versuch von Menschen, die sich bislang nicht mit internationaler Politik beschäftigt haben (mit zwei Ausnahmen), Dinge zu fordern, ohne Lösungen zu präsentieren.»

Viele Gründe für einen Waffenstillstand

Momentan scheint ein Waffenstillstand in weiter Ferne. Was es dazu braucht, haben Forscherinnen und Forscher der ETH Zürich zusammen mit Wissenschaftern des Friedensforschungsinstitutes in Oslo (Prio) und der Universität Uppsala untersucht. Die in der Fachzeitschrift «Journal of Conflict Resolution» erschienene Studie zeigt, dass die Gründe für Waffenstillstände vielfältig sind und es eine Reihe von Bedingungen gibt, welche diese vereinfachen. Untersucht wurden Bürgerkriege zwischen 1989 und 2020. Bürgerkriege deshalb, weil es in diesem Zeitraum nur sehr wenige Konflikte zwischen Staaten gegeben hat.

Die Resultate gelten nach Studienleiter Govinda Clayton vom Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich aber nicht nur für Bürgerkriege, sondern auch für Kriege zwischen Staaten, obwohl es dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede gebe. Bei Kriegen zwischen Staaten sei die Umsetzung eines Waffenstillstands eher einfacher, weil das Abkommen besser kontrollierbar sei. In Bürgerkriegen seien oft verschiedene Rebellengruppen im Kampf, was die Umsetzung schwieriger mache, sagt der Konfliktforscher der ETH Zürich.

Waffenstillstände schaffen das Problem zwischen den Kriegsparteien zwar meistens nicht aus der Welt, sind aber trotzdem ein wichtiger Schritt für einen späteren Frieden. Untersucht wurden 2202 Vereinbarungen, die während 109 innerstaatlicher Konflikte in 66 Ländern geschlossen wurden.

Und in Anbetracht der Entwicklungen in der Ukraine ist eine der wichtigsten Erkenntnisse daraus wenig erfreulich. Die Konfliktparteien sind demnach eher bereit, einen Waffenstillstand abzuschliessen, wenn der Krieg besonders blutig ist, wenn besonders viele Zivilisten getötet wurden. Im Süd-Sudan unterzeichneten die Konfliktparteien zum Beispiel im Juni 2018 ein Abkommen, das auf die blutigsten Wochen der vorangegangenen zwölf Monate folgte.

Im ersten Kriegsmonat besteht die grösste Chance auf eine Waffenruhe

Eine weitere Erkenntnis aus der Studie war, dass die Konfliktparteien oft im ersten Monat des Kriegs einer Niederlegung der Waffen zustimmen. Allerdings weniger aus Einsicht als aus taktischem Kalkül. Denn mit einem Waffenstillstand wird ausgelotet, wie ernst es dem Feind ist und ob eine Chance auf eine friedliche Beilegung besteht. Schweigen die Waffen dann nicht, dauert der Krieg im Durchschnitt vier Jahre bis zum nächsten Waffenstillstandsversuch.

Einen Waffenstillstand begünstigen kann auch ein Sturz der Regierung. «Die Wahl eines neuen Regierungschefs oder einer -chefin zeigt, dass die Bevölkerung mit der aktuellen Politik unzufrieden ist. Eine neue Person an der Spitze ist dadurch eher in der Lage, auf die Gegner zuzugehen», sagt Govinda Clayton. Allerdings verpufft der Effekt des Regimewechsels nach einem Jahr. Möglich sind Regierungswechsel durch demokratische Wahlen oder auch durch den Sturz des autokratischen Führers. Für nachhaltiger hält Clayton einen Waffenstillstand, wenn die politische Führung demokratisch ausgetauscht worden ist.

Politische Rechtfertigung und religiöse Feiertage

Auch vermittelnde Parteien können helfen. Diese geben den Konfliktparteien oft eine politische Rechtfertigung, die Waffen niederzulegen. Auch religiöse Feiertage können ein Grund für eine Kriegspause sein, weil die Konfliktparteien dann mit der Einwilligung zum Waffenstillstand ihr Gesicht nicht verlieren.

Dafür haben die Konfliktforscher Beispiele: In El Salvador rechtfertigte die Nationale Befreiungsfront Farabundo Marti den Waffenstillstand damit, eine Konzession gegenüber dem Vermittler, dem UNO-Generalsekretär, zu machen. 1989 führte das Fastenbrechen nach dem Ramadan zu mehreren Waffenstillständen in Afghanistan. Eher nicht zu einem Waffenstillstand in einem Bürgerkrieg kommt es, wenn die Regierung im Kampf gegen Rebellengruppen von aussen unterstützt wird mit Geld und Waffen.

Der Hauptgrund für einen Waffenstillstand ist aber der Wunsch nach Frieden, wie 70 Prozent der untersuchten Vereinbarungen zeigen. Ein Waffenstillstandssbkommen führte in Kolumbien schliesslich zum Frieden wie auch im Sudan. Das Niederlegen der Waffen stärkt das Vertrauen in die Regierung des Bürgerkriegslandes. Ein Waffenstillstand mit einer Rebellengruppe führt auch dazu, dass andere Konfliktparteien im Bürgerkrieg eher einer friedlichen Verschnaufpause zustimmen.

Allerdings wird der Waffenstillstand auch oft missbraucht. «Konfliktparteien nutzen sie etwa dazu, sich neu zu bewaffnen oder die territoriale Kontrolle über ein Gebiet zu konsolidieren», sagt Clayton. Bei einem Fünftel der Abkommen waren aber humanitäre Gründe ausschlaggebend, wie die Lieferung von Hilfsgütern oder die Bergung von Toten auf dem Schlachtfeld. So verschafften etwa in Syrien lokale Waffenstillstände der belagerten Bevölkerung an einigen Orten eine vorübergehende Atempause. Allerdings nutzte das Assad-Regime diese Vereinbarungen wohl auch für militärstrategische Ziele.

Minsker Abkommen um Gewalt einzudämmen

Im Falle der Ukraine wurde ein Waffenstillstand auch schon als Mittel der Konfliktbewältigung eingesetzt. Das 2015 verhandelte Minsker Abkommen zwischen Russland und der Ukraine sollte dazu dienen, die Gewalt im Gebiet Donezk einzudämmen, ohne einen Friedensvertrag zu unterschreiben. Spätestens mit dem Angriff der Russen im Februar ist dieses Abkommen zur Makulatur geworden.

Jetzt müsste ein Waffenstillstand in der Ukraine Teil eines grossen politischen Prozesses sein, der auf die Realität auf dem Kriegsfeld Rücksicht nimmt. Die beiden Konfliktparteien werden einer Waffenruhe erst zustimmen, wenn ein gewisser Punkt erreicht ist, an dem sie überhaupt einen Einigungsprozess finden. Bevor für beide Parteien keine für sie annehmbare politische Lösung in Sicht ist, ist ein Waffenstillstand unwahrscheinlich, sagt Clayton. (aargauerzeitung.ch)

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