Prognosen, wie sich Putins Krieg in der Ukraine entwickeln wird, sind kaum möglich. Fest steht: Von einem Waffenstillstand ist man derzeit noch weit entfernt. Im schlimmsten Fall könnte das Blutvergiessen noch Jahre weitergehen, fürchtet man in westlichen Sicherheitskreisen. Dennoch ist der Frieden nicht unmöglich. Grob vereinfacht, bieten sich folgende drei Szenarien, wie es dereinst zu einem Ende des Krieges kommen könnte:
«Widerstand ist zwecklos», lautete die Diagnose mancher westlicher Generäle und Politanalysten am Vorabend des Krieges. Die Ukrainerinnen und Ukrainer würden höchstens ein paar Tage durchhalten, bevor die Hauptstadt Kiew an die Russen fällt und Präsident Wladimir Putin sein Kriegsziel erreicht hat. Nun, mehr als sechs Wochen seit Beginn der Kampfhandlungen, wissen alle, dass dies ein grosser Irrtum war.
Mit viel Tapferkeit konnten die ukrainischen Streitkräfte die Russen im Norden aus dem Land jagen. Nun steht die Entscheidungsschlacht im Osten und im Süden an. Nach anfänglichem Zögern liefert der Westen der Ukraine jetzt auch schwere Waffen wie Panzer und Angriffsdrohnen. Er dürfte dies so lange tun, wie die Ukraine danach fragt. Denn das bedeutet in der Praxis, «an der Seite der Ukraine» zu stehen.
Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen wurde längst aufgegeben: Alles, was gegen den russischen Angriff nützt, hat per se einen defensiven Charakter, heisst es jetzt. Ob die Ukraine den Krieg gewinnen kann, weiss niemand. Dass sie ihn zumindest nicht verliert, scheint angesichts der hohen russischen Verluste aber möglich. Die Sanktionen des Westens, allenfalls auch auf Gas und Öl, werden am Geschehen auf dem Terrain zwar kurzfristig kaum etwas ändern.
Trotzdem sind sie als Konsequenz der kriminellen Handlungen des Putin-Regimes unerlässlich. Es ist wie bei der Coronapolitik: Es braucht einen schmerzhaften, aber effektiven Russland-Lockdown. Zusammen mit den militärischen Hilfen könnte so tatsächlich die Bedingung eines ukrainischen Siegs oder eines Teil-Siegs geschaffen werden. Unwahrscheinlich ist hingegen, dass Putin von seinen Generälen oder seinem eigenen Volk gestürzt wird. Alle wichtigen Oppositionellen sitzen im Gefängnis. Angetrieben von der Kriegspropaganda, hat Putins Zustimmung in der russischen Bevölkerung Rekordwerte erreicht.
Klar ist: Will die Ukraine den Krieg gewinnen, werden noch viele tausend Menschen sterben, auch unter der Zivilbevölkerung. Die Bestände sowjetischer Waffen, die noch in den Magazinen osteuropäischer Staaten lagern und welche die ukrainischen Streitkräfte zu bedienen wissen, werden bald aufgebraucht sein. Und selbst wenn Kiew jetzt neuere, komplexere Waffensysteme vom Westen erhält und im Schnelltempo darauf ausgebildet wird: Die Russen verfügen über schier unerschöpfliche Material- und Humanressourcen.
Der Ukraine als Ganzes könnte deshalb das Schicksal drohen, das sich gegenwärtig in der Hafenstadt Mariupol «im Kleinen» abspielt: Nach einem verlustreichen, blutigen Abwehrkampf mit horrendem Leid für die eingesperrten Bewohner ist die Stadt dem Erdboden gleichgemacht und steht vor der Kapitulation.
Vor diesem Hintergrund, argumentieren einige Beobachter, sei es besser, lieber heute als morgen aufzugeben und weiteres menschliches Leid zu vermeiden. Für die Ukraine würde dies allerdings das Ende bedeuten. Der ukrainische Staat würde zerschlagen, die Regierung von Präsident Wolodomir Selenski ins Exil verbannt oder gefangenen genommen und die Menschen einem brutalen Besatzerregime ausgesetzt werden.
Wenn es zu einem Patt kommt und ein Krieg militärisch nicht beendet werden kann, muss er politisch entschieden werden. Es ist Präsident Selenski hoch anzurechnen, dass er, auch während Putin Bomben auf sein Land regnen liess und russische Soldaten Gräueltaten begingen, stets zu Friedensgesprächen bereit war. Ob eine Einigung bedeuten könnte, dass Russland die Krim behalten und die besetzten Provinzen Donezk und Luhansk an Moskau abtreten werde, hat Selenski nie ausgeschlossen.
Auch wenn westliche Ratgeber einen Verlust dieser Gebiete als kaum vermeidlich erachten: Es wird an der Ukraine selbst liegen, darüber zu entscheiden. Falls die Verhandlungen in einem Moment militärischen Vorteils für die Ukraine stattfinden, könnte Selenski Moskau eventuell auch zu Zugeständnissen zwingen, so die Hoffnung. Das Problem ist, dass es guten Grund zur Annahme gibt, dass Putin in seinem imperialistischen Wahn nicht zu stoppen sein wird. An einem dauerhaften Waffenstillstand hat er bis jetzt kein Interesse gezeigt und falls er es doch noch tut, könnte er diesen bloss zur Atempause nutzen, bevor er die Ukraine in ein paar Jahren erneut angreift.
Es sind dies die Lehren, welche Kiew aus dem Friedensabkommen 2014 gezogen hat. Zudem fühlen sich auch osteuropäische Staaten oder das Baltikum mittlerweile bedroht. Mit einem Putin an der Macht ist auf Dauer kein Friede möglich, weiss man dort. Und man weiss es natürlich auch in der Ukraine.