Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Kostiantiniwka im Osten der Ukraine ist keine schöne Stadt. Für eine meiner Bekannten handelt es sich bloss um «ein grosses Dorf ohne Zentrum». Das ist nicht ganz falsch. Das einzige, weithin sichtbare Wahrzeichen ist ein hoher Schornstein im Industrieviertel.
Trotzdem ist mir die Stadt ohne Gesicht in den letzten drei Jahren ans Herz gewachsen. Heute ist Kostiantiniwka, das zu seinen besten Zeiten vielleicht 100’000 Einwohner hatte, auf drei Seiten von den Russen umzingelt. Es harren nur noch wenige tausend Zivilisten hier aus.
Neben Kostiantiniwka ist der knapp 50 Kilometer weiter südwestlich gelegene Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk Hauptziel der russischen Sommeroffensive. Zwischen die beiden Städte haben Putins Truppen einen tiefen Keil getrieben. Sie wollen die Ukrainer umzingeln und einschliessen. Auch wenn wir noch nicht so weit sind, ist die Lage für die Verteidiger ernst.
Warum ich mir ausgerechnet Kostiantiniwka als temporären Wohnort ausgesucht habe? Das hat mit den Schlachten zu tun, die hier seit Beginn der russischen Invasion toben. In der Umgebung befinden sich die wichtigsten Frontlinien, denn Russlands Diktator Putin will unbedingt die ganze Region Donezk erobern, und dazu gehören neben Kostiantiniwka auch Pokrowsk und das nahe gelegene Kramatorsk.
Um über die russischen Offensiven zu berichten, brauchte ich einen Rückzugsort in der Nähe und eine einigermassen sichere Bleibe. Kostiantiniwka bot sich dafür an. Ich kam in einer möblierten Wohnung unter, in einem unscheinbaren Plattenbau aus der Sowjetzeit – inklusive Strom, fliessendem Wasser und schneller Internet-Verbindung.
Wenn ich Reportagen über die Region schrieb, vermied ich es, Details über das Leben und Überleben in der Stadt zu erwähnen. Zum Beispiel mein Lieblingscafé, das von Soldaten und Zivilisten gleichermassen frequentiert wurde. Eine Erwähnung hätte riskiert, die Aufmerksamkeit auf das einst gut besuchte Lokal zu lenken. Das hätte die Gäste und vor allen die jungen Mitarbeiter gefährdet.
In Hotels, Kaffeehäusern, Restaurants oder Supermärkten, die sich in Frontnähe befinden, schlagen schnell einmal Geschosse ein. So geschehen zum Beispiel vor zwei Jahren in der beliebten Ria-Pizzeria in Kramatorsk. Das schicke Lokal zog auch viele Soldaten an. Hoch im Kurs stand es aber auch bei Journalisten und Mitarbeitern von Hilfswerken. Als ich dort einmal die traditionelle Suppe Borscht mit Schwarzbrot und Speck verspeiste, waren sich mein Übersetzer und ich einig, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Russen das Restaurant angreifen würden.
Was wir damals nicht wussten: Ein Kollaborateur namens Wolodimir Sinelnik spähte die Pizzeria für die Russen aus. Er meldete seinem Führungsoffizier auf der anderen Seite der Front, dass häufig Fahrzeuge mit den schwarzen Nummernschildern der ukrainischen Armee in der Nähe parkten, und er schickte den Russen zwei Videos als Beweise.
Als Folge davon feuerten Moskaus Streitkräfte zwei ballistische Raketen des Typs Iskander – mit einem Gefechtskopf von je 700 Kilogramm – auf das Restaurant. 13 Menschen, unter ihnen 7 Angestellte, kamen um. Ausserdem gab es mehr als 60 Verwundete. Sinelnik wurde später gefasst und wegen Hochverrats zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Wie durch ein Wunder blieb «mein» kleines Café in Kostiantiniwka dagegen verschont. Dafür griffen die Russen einen Supermarkt und den Bahnhof mit einer Rakete an und töteten 14 Menschen. In dem Laden hatte ich oft eingekauft, damit ich zuhause kochen konnte und nicht in ein Restaurant gehen musste. Nur wenige Schritte davon entfernt betrieb der Armenier Agassi mit seiner Frau einen Schaschlikstand, direkt vor einem ausgebombtem Gebäude mit Sowjetstern und einem Wandgemälde.
Agassi servierte Grillfleisch aus seiner eigenen Schweinefarm. Einmal nahm er mich dorthin mit und zeigte mir die Schäden, die eine russische Rakete in seiner Lagerhalle angerichtet hatte. Die Farm lag näher bei der Front als der Schaschlikstand in der Stadt, und so kam es, wie es vielleicht kommen musste: Als Agassi mit seinem weissen Transporter zu den Schweinen fuhr, schlug eine Granate neben dem Fahrzeug ein. Splitter zerfetzten Teile seines Beins. Im Spital musste Agassis Fuss amputiert werden. Seither ist der Stand bei der Brücke über den Bahnhof verwaist.
Je mehr sich die Front der Stadt nähert, umso öfter wird diese Brücke und ihre Umgebung zum Ziel russischer Drohnen. In einem russischen Video filmt die Kamera einer Glasfaserdrohne den Zielanflug auf einen ukrainischen Panzerwagen, der gleich vor Agassis Grillstand in Richtung Bahnhof abbiegt. Der Panzerfahrer muss wohl ortsunkundig sein, denn er scheint nicht zu wissen, wie gefährlich dieses Stadtviertel ist. Direkt neben dem Gebäude mit dem Sowjetstern hält der Panzer an, und die Heckklappe öffnet sich, damit die Soldaten aussteigen können. Die Drohne fliegt direkt in den Innenraum hinein und richtet ein Massaker an.
Das Video fand ich auch deshalb schockierend, weil der Panzerwagen mit einer ganzen Batterie von Anti-Drohnen-Störsendern ausgerüstet war, ähnlich wie mein eigenes ziviles Auto. Doch gegen Drohnen, die über ein Glasfaserkabel gesteuert werden, sind solche Sender machtlos. Bei meinem vorerst letzten Besuch in Kostiantiniwka wagte ich mich deshalb nur in das weniger von Drohnen verseuchte Stadtviertel, wo ich früher in meiner möblierten Wohnung untergekommen war.
Bei Besuchen im letzten Jahr hatte Karina, die Besitzerin der Wohnung, die Fenstergläser bereits ausbauen und durch dicke Spanplatten ersetzen lassen. Damit sollte verhindert werden, dass Druckwellen von Explosionen die Fenster zum Bersten bringen und die Bewohner durch herumfliegende Glasscherben verletzt werden. Dieser kleine Gewinn an Sicherheit wurde aber durch totale Finsternis in der Wohnung erkauft.
Warum harren Zivilisten in einem solchen Inferno aus, obwohl sich die Behörden alle Mühe geben, selbst Alte und Gebrechliche in Sicherheit zu bringen? Allein aus dem umkämpften Oblast Donezk, in dem auch Kostiantiniwka liegt, wurden seit Kriegsbeginn mehr als 1,2 Millionen Zivilisten evakuiert. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht auch auf meinem Mobiltelefon eine SMS der Behörden mit dem dringenden Aufruf zur Evakuierung eintraf. Manche Männer im wehrfähigen Alter fürchten allerdings den Wegzug, weil sie schon beim nächsten Kontrollposten ausserhalb der Stadt festgesetzt und zwangsrekrutiert werden könnten.
Andere hoffen auf den Sieg Russlands. Da ist zum Beispiel Artem (Name geändert), der ursprünglich aus einem Dorf im Süden der Ukraine stammt. Der Weiler ist schon lange von den Russen besetzt, und deshalb kann Artem seine zurückgebliebenen Eltern nicht besuchen.
Ausserdem gibt es in der Nähe seines Herkunftsorts einen Steinbruch, in dem gute Löhne bezahlt werden. Artem will deshalb unbedingt zurück, doch dafür muss Kostiantiniwka zuerst in die Hände der russischen Invasoren fallen. Seine Frau, die Schwiegermutter und einen Teil der Familie hat Artem bereits überzeugt, auf die Ankunft der Russen zu warten. Dass die stetigen Bombardemente und am Ende der Häuserkampf auch das Leben seiner Lieben kosten könnte, nimmt Artem für den Traum der Heimkehr in Kauf. (aargauerzeitung.ch)
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Sky Sentinel. Ein autonomer Geschützturm der in der Ukraine entwickelt wurde auch bekannt als der Shahed Catcher. Die Produktionkosten beruhen auf 150'000 Euro pro Einheit.