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Krieg in der Ukraine: Mario Trutmann leistet humanitäre Hilfe

Schutz und psychologische Unterstützung für Kinder: Mario Trutmann besucht ein ukrainisches Hilfswerk.
Mario Trutman leistet humanitäre Hilfe in der Ukraine.Bild: zvg

Als die Russen angriffen, lag Mario Trutmann im Bett, den Notfallsack griffbereit

Mario Trutmann leistete humanitäre Hilfe in der Ukraine, auf beiden Seiten der Front. Hier erzählt er, wie ihm Stalin begegnet ist – und was die Schweiz für die mutigsten Helfer im Krieg neu erfunden hat.
21.07.2025, 23:0021.07.2025, 23:00
Stefan Bühler / ch media
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«Ich lag in den Schuhen im Bett, mein Emergency-Run-Bag lag griffbereit daneben. Schlafen konnte ich nicht.» An die Nacht vom 23. auf den 24 Februar 2022 hat Mario Trutmann präzise Erinnerungen. Es war die Nacht, als Russland die Ukraine überfiel. «Man konnte zuhören, wie der Krieg beginnt.» Nachrichten über anrückende Truppen in den Medien, bald schon das Grollen der Einschläge im Norden der Stadt. «Surreal» sei das gewesen, ein persönlicher Schock – denn bis an diesem Tag war Kiew, wo Trutmann lebte, «eine ganz gewöhnliche Stadt».

Eine Stadt, die der 43-jährige Zürcher, der am Gymnasium Russisch gelernt hatte, längst auch von privaten Reisen kannte. Schon als Student war er in die Ukraine und nach Kiew gereist, hier hatte er zahlreiche Freunde und Bekannte. Er fühlte sich daheim.

Schutz und psychologische Unterstützung für Kinder: Mario Trutmann besucht ein ukrainisches Hilfswerk.
Schutz und psychologische Unterstützung für Kinder: Mario Trutmann besucht ein ukrainisches Hilfswerk.Bild: zvg

Der Konflikt mit Russland, der seit der Besetzung der östlichen Gebiete der Ukraine und der Krim-Halbinsel im Schwarzen Meer seit 2014 schwelte, war zwar präsent, aber für viele Menschen in der ukrainischen Hauptstadt doch weit weg.

Nicht so für Trutmann. Denn der Konflikt mit Russland war der Grund seiner Anwesenheit. Der grossgewachsene Schweizer mit der tiefen Stimme arbeitet seit 2015 in der Ukraine, mal für die UNO, mal für die Schweiz – aber immer für die humanitäre Hilfe zugunsten der vom Krieg bedrohten und betroffenen Bevölkerung.

Am Checkpoint grüsst Stalin

Trutmann kennt beide Seiten der Front. Sein erster Einsatz in der Ukraine führte ihn 2015 in das von russlandfreundlichen Separatisten besetzte Gebiet von Donezk. «Beim Grenzübertritt an den Checkpoints hingen Bilder von Stalin», erinnert er sich. «Spätestens da war klar, dass wir in eine völlig andere Welt kommen». In eine, wo sich die lokalen de facto Machthaber nicht am Völkerrecht orientieren.

Stalin als Symbol der russischen Herrschaft: Trutmann an einem Checkpoint zu separatistischen Gebieten am 14. Juni 2018.
Stalin als Symbol der russischen Herrschaft: Trutmann an einem Checkpoint zu separatistischen Gebieten am 14. Juni 2018.Bild: zvg

Es waren heikle Reisen in den Osten im Auftrag der UNOCHA, der Agentur, die für die UNO die humanitären Angelegenheiten koordiniert. Nötig waren sie trotz allem: «Humanitäre Hilfe ist neutral», sagt Trutmann. «Wer Unterstützung benötigt, soll sie wenn immer möglich erhalten» – unabhängig von der jeweiligen politischen Position. Die Bedürfnisse sind überall dieselben: sauberes Wasser, Nahrung, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung, Schulbildung für Kinder zum Beispiel.

Die Vertreterinnen und Vertreter der UNOCHA stiessen in den Separatisten-Gebieten auf viel Misstrauen. Die neuen Machthaber vermuteten Spione unter den humanitären Helfern, die UNO sahen sie als ein Vehikel des Westens. «Frustrierend» ist das Wort, das Trutmann immer wieder nennt, wenn er über die Arbeit unter den damaligen Umständen redet: «Man sieht die Not der Menschen, hätte sogar die Mittel, um ihnen zu helfen – darf aber nicht.» Zum Verzweifeln.

Viel geplant – und doch überrascht

Letztmals in der Region Donezk war Trutmann 2021. Im gleichen Jahr, als sich der nächste russische Überfall abzuzeichnen begann. Mit einem Truppenaufmarsch im Grenzgebiet zur Ukraine, «als wäre es eine Übung», erinnert er sich. «Und vielleicht auch, um zu testen, wie der Westen reagiert.» Für die Mitarbeitenden der humanitären Organisationen war das Signal klar. «Bei UNOCHA haben wir schon im November 2021 Szenarien entwickelt, welche Bedürfnisse bei einem Kriegsausbruch auf uns zukämen.»

Diese Arbeiten seien je länger, je mehr zur Hauptaufgabe geworden. «Wir haben mit allem gerechnet – nur nicht mit dem, was nachher passiert ist», sagt Trutmann. Zu den erwarteten Szenarien gehörte eine Eskalation im Osten des Landes, vielleicht auch im Norden von Weissrussland her – «aber dieser Grossangriff bis nach Kiew, das hat niemand vorausgesehen».

Am 24. Februar 2022, dem Morgen nach der Nacht, die er in seinen Schuhen im Bett verbracht hatte, begab sich Trutmann zuerst ins Büro der UNOCHA. «Walkie-Talkies holen, Dokumente einsammeln.» Dann versammelten sich die UNO-Mitarbeitenden und andere humanitäre Helferinnen und Helfer in einem Hotel im Südwesten der Stadt. Auf dessen Dach wurde das mit den grossen Buchstaben «UN» signalisiert – zum Schutz vor Luftangriffen.

«Von dort aus organisierten wir die Erste Hilfe.» Es galt, Millionen von Binnenflüchtlingen zu versorgen. Mit geheizten Zelten als Unterkünften, mit riesigen Suppenküchen am Bahnhof, mit medizinischer Versorgung für Verletzte. Bald verlegten die internationalen Organisationen ihre Zentralen nach Lwiw, auf Deutsch Lemberg, im Westen der Ukraine. Nach den ersten chaotischen Tagen lief die internationale Hilfe an. Zuerst an Grenzübergängen zu Polen, Moldau, Rumänien etwa, wo sich Kolonnen von Flüchtenden bildeten. «Die Hilfe kam beeindruckend schnell», sagt Trutmann, dessen wichtigste Aufgabe es nun war, diese Hunderte Hilfsangebote zu koordinieren.

Mit der Dauer des Krieges veränderte sich die Situation. Die ukrainische Armee drängte die Russen zurück, grosse Gebiete wurden wieder befreit. Die humanitären Bedürfnisse blieben bestehen. Über ein Drittel der Bevölkerung, rund 12,7 Millionen Menschen, sind in der Ukraine auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Zwischenzeit hatte Trutmann einen neuen Einsatz in Kiew angefangen, als Teil des humanitären Teams in der Schweizer Botschaft. Bis jetzt hat die Schweiz im Rahmen der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensförderungsarbeit mit 690 Millionen Franken Hilfe geleistet.

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Eine nach russischen Angriffen zerstörte teils zerstöre Kinder-Klinik in Odessa, Ukraine.Bild: keystone

Da ist nicht nur die zerstörte Infrastruktur, beschädigte Schulen und Spitäler, die Minenfelder, die zu räumen sind. Da sind auch die gesellschaftlichen Folgen des Krieges: «Kinder wachsen ohne Väter auf, weil viele junge Männer an der Front dienen», sagt Trutmann. «Viele der Kriegstoten sind sehr jung.» Ihre Hinterbliebenen benötigen Hilfe. Wie auch alle jene Familien, die jemanden vermissen. Die Klärung von Vermisstmeldungen trägt zur psychologischen Entlastung der Familien bei, und sie ermöglicht ihnen überhaupt erst den Zugang zu Sozialleistungen.

Versicherung für die mutigsten Helfer

Und dann gibt es da noch Entwicklungen, die Trutmann den überraschenden Satz sagen lassen: «Die humanitäre Hilfe in der Ukraine ist eine Erfolgsgeschichte.» Weil die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Behörden im Vergleich mit anderen Kriegs- und Krisengebieten gut funktioniert. Und weil der Krieg in der Ukraine die humanitäre Hilfe selbst voranbringt. An einem neuen Ansatz ist Trutmann beteiligt. Es handelt sich – typisch Schweiz? – um eine Versicherung.

Diese richtet sich an jene freiwilligen Helferinnen und Helfer, die im Hunderte Kilometer langen und rund 25 Kilometer breiten Streifen direkt hinter der Front aktiv sind. «Die internationalen Organisationen können ihre Mitarbeitenden aufgrund der grossen Risiken nicht in dieses Gebiet schicken», sagt Trutmann. Es sind deshalb ukrainische, lokale Hilfswerke, die die letzten verbliebenen Zivilistinnen und Zivilisten mit dem Nötigsten versorgen oder sie evakuieren – oft unter Lebensgefahr.

A Fenix team rescue worker places a helmet on Bohdan Scherbyna, 9, as he is evacuated with his mother Maryna Scherbyna and 14-year-old sister Angelina Scherbyna, as locals are moved from Selidove to s ...
Bei der Rettung hinterbliebener Zivilisten stehen die Helfenden selbst oft in lebensbedrohlichen Situationen. Bild: keystone

Dafür benötigen sie nicht nur Helme, Schutzwesten und gesicherte Ambulanzfahrzeuge, die der Westen liefert. Sie brauchen selber Unterstützung, wenn sie bei ihren riskanten Einsätzen verunfallen oder Opfer von Kriegshandlungen werden. Bisher bezahlte niemand für ihre Pflege oder für den Unterhalt ihrer Hinterbliebenen. Doch seit kurzem gibt es – weltweit zum ersten Mal in dieser Form – eine Lebens- und Unfallversicherung für Freiwillige, welche von der Schweiz initiiert, finanziert und mit Expertise unterstützt wird.

Der Bund arbeitet dafür mit zwei Partnerorganisationen zusammen: dem ukrainischen Relief Coordination Centre und der internationalen NGO Nonviolent Peaceforce mit Sitz in der Schweiz. Derzeit sind 4683 Freiwillige versichert, bis jetzt kam es zu 42 Versicherungsfällen, für die Leistungen im Wert von insgesamt rund 25’500 Franken ausbezahlt wurden. Die Vorfälle reichten von Autounfällen mit tödlichem Ausgang über schwere Verletzungen nach Drohnenbeschuss während Evakuationen bis hin zu Unfällen in der Küche.

Die Versicherung gilt als eine der bisher wichtigsten Innovationen der humanitären Hilfe in der Ukraine. Lokale Freiwillige sind oft als Erste vor Ort und leisten effektivste humanitäre Hilfe – jedoch meist ohne finanzielle Absicherung. «Diese Leute gehen dorthin, wo uns der Zugang verwehrt ist», sagt Trutmann, «da ist es das Mindeste, dass wir wenigstens ihre Risiken abdecken.» (aargauerzeitung.ch)

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