An den Autos wehen weisse Wimpel im Fahrtwind. Die ukrainischen Zivilisten fürchten sich vor russischen Kampfdrohnen. Mit den weissen Fähnchen hoffen sie, ihre Autos sichtbar von Armeefahrzeugen zu unterscheiden.
Weil es auf beiden Seiten der Front an Transportkapazität mangelt, sind sowohl russische als auch ukrainische Soldaten häufig in Zivilfahrzeugen unterwegs. Das vergrössert das Risiko für Unbeteiligte.
Hirnyk ist eine kleine Ortschaft mitten im heftig umkämpften Oblast Donezk. Im Stadtwappen ist ein Bergmann mit Helm und Schlagbohrmaschine zu sehen. Er hält ein grosses Stück Kohle in der Hand. Vor dem Krieg lebten hier etwas mehr als 11'000 Einwohner. Vom Stadtrand aus sieht man über Sonnenblumenfelder hinweg auf das Flüsschen Wowtscha und dahinter auf Abraumhalden von Kohleminen. Sie liegen in jenem Gebiet, das die Russen bereits erobert haben.
In westlichen Medien ist viel über den bevorstehenden Fall der Stadt Pokrowsk die Rede, einem wichtigen Nachschubzentrum der Ukrainer, rund 30 Kilometer nordwestlich von Hirnyk. In Tat und Wahrheit konzentrieren sich Putins Truppen derzeit aber vielmehr darauf, den tiefen Keil, den sie in den Oblast Donezk getrieben haben, zu verbreitern und Hirnyk sowie andere Ortschaften in der Umgebung einzunehmen.
Gelingen diese Vorstösse, winken den Russen im besten Fall Geländegewinne von etwa 350 Quadratkilometern. Es lässt sich schon absehen, dass sich die ukrainischen Verbände aus einem von drei Seiten umschlossenen Gebiet zurückziehen müssen. Ähnliches könnte der ukrainischen Festung Wuhledar weiter südlich drohen, falls es die Russen schaffen, diesen seit langem umkämpften Ort zu umgehen und von hinten anzugreifen.
Aus den von den Russen gewonnenen Schlachten um die Städte Bachmut und Awdijiwka wissen wir, dass die Invasoren grössere Ortschaften erst erobern, wenn sie diese auf drei Seiten umzingelt haben. Das ist bei Pokrowsk noch lange nicht der Fall. Dort sind die Russen einzig im Südosten in die Nähe der Stadt vorgestossen.
Die Kämpfe um Hirnyk und die Gebiete weiter südlich dienen deshalb der Vorbereitung für einen Grossangriff auf Pokrowsk: Spätestens wenn die Russen nicht nur im Osten, sondern auch im Süden der Stadt stehen, dürften sie für den grossen Angriff auf das Logistikzentrum bereit sein.
Von Hirnyk fahren wir mit zwei Soldaten des 21. Bataillons der Nationalgarde auf einer Teerstrasse Richtung Pokrowsk. Die Einheit gehört zur Präsidentengarde und ist für Spezialaufgaben vorgesehen. Auf die Frage, warum so wenig Befestigungsanlagen zu sehen sind, wird einer der Männer emotional und benutzt Ausdrücke, die nicht zur Publikation geeignet sind: «Das musst du schon unsere Militärführung fragen. Die hat sich ganz auf diese doofe Aktion im russischen Kursk konzentriert und uns hier im Regen stehen gelassen.» Fairerweise sollte man anfügen, dass die Armee seither erhebliche Verstärkungen nach Pokrowsk entsandt hat. Diese haben den russischen Vormarsch verlangsamt, aber nicht gestoppt.
In der Stadt Selydowe legen wir eine Rast ein. Hier leben noch Zivilisten, obwohl einige Gebäude bereits deutliche Spuren von Artilleriebeschuss und russischen Gleitbomben aufweisen. Von Raketen getroffen wurde auch ein lokaler Markt. Gleich daneben haben sich Soldaten in einem leerstehenden Haus einquartiert.
Vor einem der wenigen Lebensmittelläden, die noch geöffnet sind, fährt plötzlich ein ukrainischer Kampfpanzer mit rasselnden Ketten vorbei. Die Einnahme von Selydowe ist eine Vorbedingung, damit Moskaus Truppen Pokrowsk auch von Süden her bedrängen können. Die Ukrainer wissen das und wehren sich deshalb mit allen Kräften. Am Ende werden in der Stadt nur Ruinen bleiben.
Manche Zivilisten sind freundlich zu den Soldaten, andere verhalten sich misstrauisch und ablehnend. Wie überall im Oblast Donezk ist der Anteil jener, die sich einen Anschluss an Russland wünschen, grösser als im Rest des Landes. Nach all den von Russland angerichteten Zerstörungen, Massakern und Morden an Kriegsgefangenen ist Russlands fünfte Kolonne allerdings auf einen verschwindend kleinen Anteil an der Gesamtbevölkerung zusammengeschrumpft.
Was immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, dass die ukrainischen Soldaten die Putin-Anhänger eher belächeln und in Ruhe lassen, solange diese den Russen nicht aktiv Informationen über die Stellungen oder Truppenbewegungen liefern. Meistens handelt es sich dabei um ältere Menschen, die dem Leben in der Sowjetunion nachtrauern.
Die Entwicklungen in der russischen Region Kursk haben ohne Zweifel einen grossen Einfluss auf die Lage bei Pokrowsk. Denn einerseits haben die Ukrainer kampferprobte Einheiten aus dem Oblast Donezk abgezogen, um damit in Russland einzufallen. Und anderseits haben Präsident Selenskyj und der Chef der Streitkräfte, General Syrskyj, immer noch die Hoffnung, dass Russland am Ende Truppen aus der Gegend von Pokrowsk nach Kursk verlegen muss.
In Kursk hat inzwischen die erwartete russische Gegenoffensive begonnen, und die Ukrainer haben dort schon etwa zehn Prozent des eroberten Gebiets wieder verloren. Allerdings antworteten sie auf die Gegenoffensive ihrerseits mit einem weiteren Einfall in die Region Kursk, einfach etwas weiter westlich. Wie das Ganze ausgeht, ist also noch offen.
In der Gegend von Pokrowsk hat das Kursker Abenteuer anfänglich dazu geführt, dass die Russen schneller vorstossen konnten. Ende August erreichten die täglichen Geländegewinne einen Höhepunkt. Danach sanken sie etwas, doch in letzter Zeit erobern die Russen im Schnitt rund 14 Quadratkilometer pro Tag. Das ist mehr als doppelt so viel wie vor Beginn der Kursker Invasion am 6. August.
Bleiben sie bitte ihrer Linie treu und kommen sie wohlbehalten zurück!