
Der damalige OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger (rechts) mit dem russischen Aussenminister Sergej Lawrow und dem Österreicher Sebastian Kurz.bild: imago
Der Schweizer Sicherheitsexperte Thomas Greminger kritisiert, dass sowohl Russland als auch der Westen Schwarz-Weiss-Bilder verbreiten würden. In einer differenzierten Analyse malt er die Grautöne: Etwa zur Rolle der Nato und zu Rechtsextremen.
30.05.2022, 20:2931.05.2022, 14:23
Andreas Maurer / ch media
Thomas Greminger war der Mann zwischen den Fronten. Als Schweizer Botschafter und später als Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernahm er nach der Besetzung der Krim 2014 eine unmögliche Mission: Er vermittelte zwischen der Ukraine und Russland. Er hätte verhindern sollen, was vor drei Monaten mit dem Angriff passiert ist.
Heute leitet er das Zentrum für Sicherheitspolitik in Genf und stellt fest:
«Ein neuer ideologischer Kalter Krieg zwischen dem Westen und dem Osten hat begonnen. Beide Seiten arbeiten mit Schwarz-Weiss-Bildern und akzeptieren keine Grautöne.»
Thomas Greminger
Diese Grautöne versucht er darzustellen. Auf Anfrage nimmt er Stellung zu vier umstrittenen Narrativen zum Ukraine-Krieg. Diese werden von Russland häufig noch zugespitzt, während sie im Westen oft pauschal in Abrede gestellt werden. In differenzierten Analysen zeigt Greminger auf, dass das zu einfach ist. Denn alle vier Erzählungen enthalten einen wahren Kern.
Narrativ: Bedrohliche Nato
Die Behauptung: Die Nato-Osterweiterung hat Russland in die Enge getrieben. So kam es zur Eskalation.

Nato-Manöver in Deutschland.Bild: keystone
Gremingers Analyse:
«Es ist nicht gelungen, für Russland eine Rolle in der europäischen Sicherheitsordnung zu finden, die den russischen Ansprüchen entsprochen hätte. Nachdem der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, waren die Russen frustriert, dass das Gleiche nicht auch mit der Nato passierte.
Die Idee, dass die spätere OSZE diese Rolle übernehmen könnte, zerschlug sich. Die Nato konsolidierte sich und dehnte sich dann zügig Richtung Osten aus – entgegen den mündlichen Versprechen der USA von 1990.
Die breite Bevölkerung von Russland fühlt sich deshalb getäuscht. Diese Wahrnehmung ist unabhängig von Putin russischer Mainstream. Er hat diese Gefühle einfach geschickt instrumentalisiert.
Der Westen hingegen hat erwartet, dass Russland zu einem Staat europäischen Zuschnitts wird und eine neoliberale Wirtschaftspolitik sowie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern wird. Das Gegenteil ist in den letzten fünfzehn Jahren geschehen: Russland wurde immer autoritärer.
Viele Staaten in Zentral- und Osteuropa, die Teil der Sowjetunion waren, fühlten sich dabei vom liberalen Modell des Westens angezogen und gleichzeitig von Russland bedroht. Russland hat es nicht verstanden, diese Staaten über Soft Power anzuziehen und in seinen Orbit reinzubringen. Die Angst vor dem russischen Bären hat dazu geführt, dass sich diese Staaten für einen Nato-Beitritt interessiert haben.»
Schweizer Spitzendiplomat
Thomas Greminger, 62, ist seit einem Jahr Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Von 2017 bis 2020 war er Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zuvor war er ab 2010 Botschafter der Schweiz bei der OSZE. Als die Schweiz 2014 den Vorsitz innehatte, baute er eine Beobachtermission für die Ukraine mit auf.

Die Amtszeit von Thomas Greminger als OSZE-Generalsekretär war 2020 nicht verlängert worden.Bild: sda
Gremingers Fazit:
«Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind seit dem Ende des Kalten Krieges auf beiden Seiten geprägt von unrealistischen Erwartungen. Beide Seiten gehen davon aus, dass die andere ihre Versprechen gebrochen habe.»
Narrativ: Korrupte Ukraine
Die Behauptung: Die Ukraine ist nicht wirklich demokratisch, sondern zutiefst korrupt. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist durch Korruption an sein Amt gekommen, dank der Unterstützung von Oligarchen.
Gremingers Analyse:
«Ich sage wieder: Die Aussage hat einen wahren Kern. Oligarchen haben in der Ukraine weiterhin einen grossen Einfluss auf die Meinungsbildung, weil sie viele Medien kontrollieren. Viele Versuche, ihre Macht zu brechen, sind gescheitert. Und Korruption bleibt ein Faktor.
Fakt ist aber auch: Die ukrainische Regierung hat Reformen umgesetzt, zwar langsamer als angekündigt, aber die Richtung stimmt. Grundsätzlich ist die Ukraine eine offene Gesellschaft mit einer grossen Meinungsvielfalt.
Zudem hat die OSZE den Wahlen von 2019, als Selenski gewählt wurde, insgesamt ein gutes Zeugnis ausgestellt und sie als frei und fair eingestuft.»

Oligarch Igor Kolomoyskyi finanzierte Wolodymyr Selenskyjs Wahlkampf 2019.bild: imago
Gremingers Fazit:
«Es gibt zwar weiterhin wesentliche Probleme mit Oligarchen und Korruption, aber es gibt auch einen Reformtrend. Im Vergleich zu Russland mutet die Ukraine diesbezüglich wie von einem anderen Planeten an.»
Narrativ: Einflussreiche Rechtsextreme
Die Behauptung: Rechtsextreme Bewegungen prägen die Ukraine. Sie waren für den Maidan-Aufstand entscheidend und sind es auch jetzt im Krieg mit dem Asow-Regiment.

Das rechtsextreme Asow-Regiment.Bild: Serg Glovny/Zuma/imago images)
Gremingers Analyse:
«Auch in dieser Aussage steckt ein Kern Wahrheit. Es gibt rechtsextreme Bewegungen in der Ukraine, und sie haben eine gewisse Relevanz in der ukrainischen Politik. Sie waren zwar nicht ausschlaggebend für den Maidan-Aufstand, haben aber ein erhebliches Mobilisierungs- und Radikalisierungspotenzial.
Die ukrainische Regierung hat manchmal Mühe, sich von rechtsextremen Gruppierungen zu distanzieren. Das hat auch damit zu tun, dass die ukrainische Armee 2014 in einem ziemlich schlechten Zustand war und rechtsextreme Bataillone wie Asow oder Aidar dafür gesorgt haben, dass das Land nicht von Osten her überrannt wurde.
Entsprechend haben diese Bewegungen auch politisches Gewicht erhalten. Rechtsradikale Gruppierungen prägen die Politik aber nicht in dem Sinn, dass Putins Propaganda vom Nazi-Staat gerechtfertigt wäre.
Und auch hier: Drehen wir den Spiegel mal um. Rechtsextreme Gruppierungen haben auch in Russland eine wesentliche Bedeutung, wie Putins Nähe zu den Grauen Wölfen und zu rechtsextremen Gruppierungen in ganz Europa zeigt.»
Gremingers Fazit:
«Beide Länder haben ein Problem mit rechtsextremen Gruppierungen. Diese sind aber keine dominanten Faktoren in der politischen Realität.»
Narrativ: Unterdrückte Russen
Die Behauptung: Die russische Kultur wurde in der Ukraine unterdrückt. Russischsprachige Zeitungen wurden zum Beispiel durch Vorschriften praktisch verunmöglicht.
Gremingers Analyse:
«Von Unterdrückung zu sprechen, ist nicht gerechtfertigt. Ich stimme aber zu, dass es der Ukraine, seit ihrer Unabhängigkeit, nie gelungen ist, ein gleichberechtigtes Nebeneinander der Sprachgruppen im Land herzustellen. Wenn die eine Seite an der Macht war, wurde die andere benachteiligt – und umgekehrt.
Je stärker der Druck der Russen auf das Land ist, desto ausgeprägter wird auch der Reflex, das Ukrainische zu bevorteilen und russische Minderheiten zu benachteiligen.
Es entstand nie ein ukrainisches Nationalbewusstsein, das auf einer Multiethnizität und einer sprachlichen Vielfalt wie in der Schweiz aufbaut. Das ist schade und birgt Konfliktpotenzial.
In meiner Zeit als Generalsekretär der OSZE habe ich zusammen mit dem Hochkommissar für nationale Minderheiten im Rahmen der stillen Diplomatie viele Briefe an die ukrainische Regierung mitunterzeichnet, in der wir auf problematische Gesetze zu Erziehung und Sprache aufmerksam gemacht haben, die Minderheiten diskriminieren. Die meisten Interventionen blieben wirkungslos. Da fehlt der Ukraine die Sensibilitäten.»

Grosse russischsprachige Zeitungen gibt es in der Ukraine nicht mehr, da sie gemäss Gesetz eine gleich grosse Auflage auf Ukrainisch drucken müssten. (Im Bild: Novaya Gazeta)Bild: EPA/EPA
Gremingers Fazit:
«Unabhängig von der russischen Bedrohung betrachtet: Wenn die Ukraine zu einem inneren Frieden finden will, muss sie sich zu einer stärkeren Pluralität hinbewegen.»
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Das ist der Hauptgrund der Nato Osterweitrung und nicht, wie von Russland erzählt, dass die Nato Russland angreifen wolle.
Die Bedrohung ging also immer von Russland aus.
Putins Regime würde ich als Rechtsexrem bezeichnen, da es zutiefst Nationalistisch ist und gleichzeitig der Ukraine ein Existenzrecht aberkennt. Der Kreml hat also nicht nur ein Problem mit rechtsextremen Gruppierungen, das Regime ist selber rechtsextrem.
Ein Schwellenland das auf dem richtigen Weg war und ist.
Demgegenüber haben wir mit ähnlicher Ausgangslage das SchwellenlandTürkei (BIP so gross wie CH) die sich selbst abschafft und rückabwickelt ohne jemals mehr die Chance zu haben zu Europa aufzuschliessen.