Russland lügt, aber sagt die Ukraine immer die Wahrheit? 4 Behauptungen im Faktencheck
Thomas Greminger war der Mann zwischen den Fronten. Als Schweizer Botschafter und später als Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernahm er nach der Besetzung der Krim 2014 eine unmögliche Mission: Er vermittelte zwischen der Ukraine und Russland. Er hätte verhindern sollen, was vor drei Monaten mit dem Angriff passiert ist.
Heute leitet er das Zentrum für Sicherheitspolitik in Genf und stellt fest:
Diese Grautöne versucht er darzustellen. Auf Anfrage nimmt er Stellung zu vier umstrittenen Narrativen zum Ukraine-Krieg. Diese werden von Russland häufig noch zugespitzt, während sie im Westen oft pauschal in Abrede gestellt werden. In differenzierten Analysen zeigt Greminger auf, dass das zu einfach ist. Denn alle vier Erzählungen enthalten einen wahren Kern.
Narrativ: Bedrohliche Nato
Die Behauptung: Die Nato-Osterweiterung hat Russland in die Enge getrieben. So kam es zur Eskalation.
Gremingers Analyse:
Die Idee, dass die spätere OSZE diese Rolle übernehmen könnte, zerschlug sich. Die Nato konsolidierte sich und dehnte sich dann zügig Richtung Osten aus – entgegen den mündlichen Versprechen der USA von 1990.
Die breite Bevölkerung von Russland fühlt sich deshalb getäuscht. Diese Wahrnehmung ist unabhängig von Putin russischer Mainstream. Er hat diese Gefühle einfach geschickt instrumentalisiert.
Der Westen hingegen hat erwartet, dass Russland zu einem Staat europäischen Zuschnitts wird und eine neoliberale Wirtschaftspolitik sowie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern wird. Das Gegenteil ist in den letzten fünfzehn Jahren geschehen: Russland wurde immer autoritärer.
Viele Staaten in Zentral- und Osteuropa, die Teil der Sowjetunion waren, fühlten sich dabei vom liberalen Modell des Westens angezogen und gleichzeitig von Russland bedroht. Russland hat es nicht verstanden, diese Staaten über Soft Power anzuziehen und in seinen Orbit reinzubringen. Die Angst vor dem russischen Bären hat dazu geführt, dass sich diese Staaten für einen Nato-Beitritt interessiert haben.»
Gremingers Fazit:
Narrativ: Korrupte Ukraine
Die Behauptung: Die Ukraine ist nicht wirklich demokratisch, sondern zutiefst korrupt. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist durch Korruption an sein Amt gekommen, dank der Unterstützung von Oligarchen.
Gremingers Analyse:
Fakt ist aber auch: Die ukrainische Regierung hat Reformen umgesetzt, zwar langsamer als angekündigt, aber die Richtung stimmt. Grundsätzlich ist die Ukraine eine offene Gesellschaft mit einer grossen Meinungsvielfalt.
Zudem hat die OSZE den Wahlen von 2019, als Selenski gewählt wurde, insgesamt ein gutes Zeugnis ausgestellt und sie als frei und fair eingestuft.»
Gremingers Fazit:
Narrativ: Einflussreiche Rechtsextreme
Die Behauptung: Rechtsextreme Bewegungen prägen die Ukraine. Sie waren für den Maidan-Aufstand entscheidend und sind es auch jetzt im Krieg mit dem Asow-Regiment.
Gremingers Analyse:
Die ukrainische Regierung hat manchmal Mühe, sich von rechtsextremen Gruppierungen zu distanzieren. Das hat auch damit zu tun, dass die ukrainische Armee 2014 in einem ziemlich schlechten Zustand war und rechtsextreme Bataillone wie Asow oder Aidar dafür gesorgt haben, dass das Land nicht von Osten her überrannt wurde.
Entsprechend haben diese Bewegungen auch politisches Gewicht erhalten. Rechtsradikale Gruppierungen prägen die Politik aber nicht in dem Sinn, dass Putins Propaganda vom Nazi-Staat gerechtfertigt wäre.
Und auch hier: Drehen wir den Spiegel mal um. Rechtsextreme Gruppierungen haben auch in Russland eine wesentliche Bedeutung, wie Putins Nähe zu den Grauen Wölfen und zu rechtsextremen Gruppierungen in ganz Europa zeigt.»
Gremingers Fazit:
Narrativ: Unterdrückte Russen
Die Behauptung: Die russische Kultur wurde in der Ukraine unterdrückt. Russischsprachige Zeitungen wurden zum Beispiel durch Vorschriften praktisch verunmöglicht.
Gremingers Analyse:
Je stärker der Druck der Russen auf das Land ist, desto ausgeprägter wird auch der Reflex, das Ukrainische zu bevorteilen und russische Minderheiten zu benachteiligen.
Es entstand nie ein ukrainisches Nationalbewusstsein, das auf einer Multiethnizität und einer sprachlichen Vielfalt wie in der Schweiz aufbaut. Das ist schade und birgt Konfliktpotenzial.
In meiner Zeit als Generalsekretär der OSZE habe ich zusammen mit dem Hochkommissar für nationale Minderheiten im Rahmen der stillen Diplomatie viele Briefe an die ukrainische Regierung mitunterzeichnet, in der wir auf problematische Gesetze zu Erziehung und Sprache aufmerksam gemacht haben, die Minderheiten diskriminieren. Die meisten Interventionen blieben wirkungslos. Da fehlt der Ukraine die Sensibilitäten.»