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«Weiss nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, mich zu erschiessen»

«Weiss nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, mich zu erschiessen»

Soldaten an der Front berichten von brutalen Kämpfen in der Ukraine. Auch «Maestro» war im Gefecht – einen Monat lang versteckte er sich vor seinen Gegnern.
19.09.2023, 07:5319.09.2023, 09:53
Liesa Wölm / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Vor wenigen Wochen befreite die ukrainische Armee das Dorf Robotyne im Süden der Ukraine. Die Soldaten schlugen die russischen Truppen in die Flucht. «Maestro», der seit Ende 2022 für die 47. Brigade «Magura» kämpft, war an der Zurückeroberung beteiligt – doch zuvor hatte er sich einen Monat in dem von Russland besetzten Dorf versteckt. Im Gespräch mit dem «Tagesspiegel» berichtet er von seiner Todesangst und wie er in eine solche Situation geriet.

Platoon training of 3rd Assault Brigade UKRAINE - SEPTEMBER 7, 2023 - A serviceman of the 3rd Separate Assault Brigade attends a platoon training session., Credit:Dmytro Smolienko / Avalon Ukraine PUB ...
Ein ukrainischer Soldat während eines Trainings im September 2023.Bild: www.imago-images.de

Am 22. Juli hatte «Maestros» Brigade demnach die Aufgabe, die dichten Minenfelder und Befestigungen zu überwinden, die die Russen vor dem damals besetzten Dorf errichtet hatten. Er sollte die russische Hauptverteidigungslinie erreichen, die direkt hinter Robotyne lag. Die russische Armee hatte Robotyne im März 2022, kurz nach Beginn des Krieges, eingenommen. Das Dorf ist strategisch bedeutsam, weil es an der Autobahn zur Stadt Tokmak liegt, die ebenfalls im Visier der ukrainischen Gegenoffensive steht.

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Würde die Ukraine Tokmak zurückerobern, wäre der Weg nach Melitopol frei – Knotenpunkt für Russlands Munitionsnachschub und die vom Kreml erklärte Hauptstadt der russisch besetzten Region Saporischschja. Auch liegt sie nahe der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Krim, die die Ukraine ebenfalls zurückerobern will.

«Am gefährlichsten waren die Streubomben»

An jenem Tag im Juli wurden «Maestro» und seine Kumpanen von russischen Truppen beschossen, berichtet er. «Am gefährlichsten waren die Streubomben.» Er habe sich zwei Verbrennungen an den Augen zugezogen, weil er in der Schiessscharte gestanden habe. Nach einem weiteren Schusswechsel sei er von der Truppe getrennt worden. Eine Granate habe seinen Freund getroffen. Dessen Körper sei auf ihn gefallen. «Das rettete mir das Leben», erzählt «Maestro». So hätten die Russen ihn nicht bemerkt – aber zugleich habe sich seine Brigade zurückgezogen.

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Die Berichte von «Maestro» lassen sich nicht unabhängig prüfen (Symbolbild).Bild: www.imago-images.de

Von diesem Tag an kämpfte «Maestro» inmitten von der russischen Armee ums Überleben. «Ich versteckte mich hinter Bäumen und Büschen und kroch gegen 4 Uhr morgens ins Dorf», berichtet der 47-Jährige im «Tagesspiegel». «Die Russen entdeckten mich, als ich fast an den Häusern des Dorfes war.» Doch es gelang ihm, sich erneut zu verstecken. Seine Berichte lassen sich nicht unabhängig prüfen, aber dem «Tagesspiegel» zufolge hat das ukrainische Militär die Kämpfe bei Robotyne und «Maestros» Schilderungen bestätigt.

«Sie suchten nach mir»

In seinem Versteck sei der Soldat mehrere Tage lang geblieben. Dann sei er ins Dorf vorgedrungen, wo er unter anderem in einem Schuppen und in einem Haus Unterschlupf gefunden habe. Er habe mehrmals feindliche Kanonen ausser Gefecht gesetzt, so «Maestro».

Zwischenzeitlich waren russische Soldaten auf ihn aufmerksam geworden. «Sie liefen herum und suchten nach mir, und ich versteckte mich in einem Gemüsegarten zwischen Unkraut.» Der eine habe den anderen gefragt, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn fänden. Der andere habe geantwortet, dass sie ihn auf der Stelle erschiessen würden. «Nur haben sie mich nicht gefunden. Ich hatte Glück», sagt Maestro. Ernährt habe er sich von Baumblättern, Gras und Waldbeeren.

Für den Fall, dass die russischen Kämpfer ihn doch entdeckt hätten, hatte sich «Maestro» ebenfalls vorbereitet: «Ich hatte eine Patrone in meiner Tasche», sagt er. «Ich weiss nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, mich zu erschiessen, aber ich hatte die Patrone bei mir. Ich hätte mich sicher nicht ergeben.» Nach rund einem Monat, am 24. August, befreiten ihn ukrainische Soldaten – und das Dorf ging zurück an die Ukraine. «Maestro» hat derzeit Urlaub und wird medizinisch versorgt. Doch schon bald will er an die Front zurückkehren.

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7 Kommentare
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TheRealSnakePlissken
19.09.2023 09:57registriert Januar 2018
“ Doch schon bald will er an die Front zurückkehren.” - Erinnert 1:1 an den Minenentschärfer im Kriegsfilm „The Hurt Locker“ (dargestellt von Jeremy Renner). Eigentlich hat dieser Mensch mehr als genug erlebt, aber er will wieder zurück an den Ort des Horrors. Ich hoffe, dass diese Soldaten nach Ende des Krieges wieder runterfahren können. Wahrscheinlich ist das umso besser möglich, wenn der Krieg für die Ukraine halbwegs befriedigend ausgeht.
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Kaoro
19.09.2023 12:26registriert April 2018
grössten Respekt für die ukrainischen Kämpfer. Nur schwer zu verstehen, wenn man nicht selber so etwas durchleben musste.
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Gawayn
19.09.2023 14:12registriert März 2018
Das mindeste was man von ihm sagen kann
Ein verdammt harter Kerl.
Aber es ist genau diese Situation die seit der Zeit in denen es Kriege gibt besteht.
Greifen Soldaten ein anderes Land an, ist es meist so, das die Verteidiger die sich im Recht wißen, ein vielfaches an Kampfmoral gegenüber den Angreifern haben. Die wissen nämlich, das sie hier nichts verloren haben.
Deswegen wird Rußland auch verlieren
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