International
Ukraine

Ukraine: Wie ein Land nach drei Jahren Krieg nach neuen Soldaten sucht

Andrii Serhieiev, a Ukrainian soldier with the 53rd brigade who lost a leg in battle, stands in front of a destroyed Russian armoured vehicle near the frontline in the Lyman direction, Donetsk region, ...
Ein ukrainischer Soldat: Der Ukraine fehlt es aktuell nicht nur an Waffen, sondern auch an Soldaten.Bild: keystone

Ukraine: Wie ein Land nach drei Jahren Krieg nach neuen Soldaten sucht

Während im Westen über ausbleibende Militärhilfen für die Ukraine diskutiert wird, hat das Land auch mit Personenmangel zu kämpfen. Wie will die ukrainische Führung dieses Problem lösen?
26.02.2025, 22:3826.02.2025, 22:38
David Schafbuch / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Kurz vor dem Jahrestag der russischen Vollinvasion auf die Ukraine führte die Armee des Kremls einen Angriff von bisher unerreichtem Ausmass: 267 Drohnenangriffe registrierte die ukrainische Luftwaffe in der Nacht von Samstag auf Sonntag. So viele Drohnenattacken hatte es seit dem 24. Februar 2022 innerhalb einer Nacht noch nie gegeben.

Oleksandr Syrskyj, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, gab sich trotz des grossen Angriffs am Jahrestag der russischen Vollinvasion kämpferisch: «Die Welt glaubte nicht, dass wir überleben würden, aber das ukrainische Volk hat den Angriffen des Feindes mit Würde widerstanden», schrieb Syrskyj auf seinem Telegram-Kanal. Zudem sei die ukrainische Armee dabei, mit Unterstützung ihrer westlichen Unterstützer ihre Verteidigungskapazitäten auszubauen. Man sei «abgehärtet, stark und geeint» und werde auch diesen Krieg gegen Russland überleben.

Die Realität sieht derweil allerdings etwas anders aus: Die westliche Unterstützung – allen voran aus den USA – beginnt zu bröckeln. Mit grösseren Waffenlieferungen ist angesichts der Verhandlungen zwischen US-Präsident Donald Trump und Wladimir Putin aktuell ohnehin nicht zu rechnen. Doch die Probleme der Ukraine fangen nicht erst bei ausbleibenden Rüstungslieferungen an. Auch die Organisation des eigenen Militärs und die damit verbundene Gewinnung neuer Soldaten bereitet dem Land gerade mindestens genauso grosse Probleme.

FILE - President Donald Trump, left, and Russian President Vladimir Putin shake hands at the beginning of a meeting at the Presidential Palace in Helsinki, Finland, July 16, 2018. (AP Photo/Pablo Mart ...
Donald Trump und Vladimir Putin: Mit grösseren Waffenlieferungen ist angesichts der Verhandlungen zwischen Donald Trump und Wladimir Putin aktuell nicht zu rechnen.Bild: keystone

Das grundsätzliche Kräfteverhältnis in diesem Krieg hat sich seit dem Ende der ukrainischen Offensive im Sommer 2023 nicht verändert: Die russische Armee rückt vor – wenn auch unter grossen Verlusten und in überschaubarem Tempo. Das Institute for the Study of War rechnete jüngst vor, dass Russland in diesem Tempo noch mehr als 83 Jahre brauchen würde, um die gesamte Ukraine zu erobern.

Dennoch steht die Ukraine unter grösserem militärischen Druck: Leichte Gebietsgewinne soll Russland zuletzt in der Region um die Stadt Pokrowsk nordwestlich von Donezk verzeichnet haben, die seit Längerem als besonders umkämpftes Gebiet entlang der Front gilt. In der gesamten Region Donezk soll die russische Armee seit Jahresbeginn rund 400 Quadratkilometer erobert haben. Das entspricht grob der Fläche der Stadt Bremen.

Bild

Der Mangel an Waffen und Munition ist allerdings nur eines der Probleme der Ukraine. Auch bei der Gewinnung neuer Soldaten hat das Militär Schwierigkeiten. Das International Institute for Strategic Studies schätzte in einer jüngsten Analyse, dass aktuell etwa 50'000 bis 100'000 Soldaten fehlen.

Rein statistisch müsste das 37-Millionen-Einwohner-Land den Mangel an Soldaten kompensieren können. Zusätzlich gilt in der Ukraine seit der russischen Vollinvasion eine allgemeine Mobilmachung: Alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren müssen sich in einer Datenbank registrieren und dürfen seit Kriegsbeginn das Land abgesehen von wenigen Ausnahmen nicht mehr verlassen.

Für alle Männer war schon zuvor ein Wehrdienst ab dem 18. Lebensjahr verpflichtend. Für den Kampf an der Front wurden zunächst nur Ukrainer ab 27 Jahren eingezogen. Im Frühjahr 2024 wurde aus Personalmangel das Alter allerdings auf 25 Jahre gesenkt.

Viele Schlupflöcher

Doch das ukrainische System hat Lücken: Millionen von Männern sollen sich bisher nicht in die Datenbank eingetragen haben. Manche schreiben sich an der Universität ein, da Studierende nicht eingezogen werden, oder nehmen andere systemrelevante Berufe an. Andere verlassen kaum mehr ihr Haus, um Rekrutierungsmassnahmen zu entgehen. Zudem sind viele Ukrainer aus dem Land geflohen. Nach Zahlen von Eurostat leben im gesamten EU-Raum fast eine Million Ukrainer im Alter von 18 bis 64 Jahren, die altersbedingt grösstenteils für den Kampf an der Front infrage kämen.

Zudem wurde das Militär jüngst von zwei Skandalen erschüttert, die an seinem Image kratzten und Fragen angesichts seiner Organisation aufwarfen: Im vergangenen Dezember wurden Missbrauchsvorwürfe gegen Kommandanten der 211. Pontonbrückenbrigade publik: Laut ukrainischen Medien sollen Kommandeure dort unter anderem Soldaten geschlagen und um Geld erpresst haben. Zur Bestrafung sollen in der Brigade auch Mitglieder an ein Holzkreuz gefesselt worden sein. Mittlerweile beschäftigt der Fall die Staatsanwaltschaft.

Zusätzlich wurde die ursprünglich als Prestigeeinheit geplante Brigade «Anna von Kiew» Anfang Januar aufgelöst: Viele Mitglieder der Einheit sollen bereits während ihrer Ausbildung in Frankreich desertiert sein, weitere Soldaten flohen dann, als die Einheit im umkämpften Prokrowsk eingesetzt wurde, sodass die Brigade aufgelöst wurde.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Aufgrund ihrer Personalprobleme hat die Ukraine die Ausbildungszeit ihrer Rekruten verkürzt. Ausserdem wird die Kampfmoral der Soldaten aufgrund der anhaltenden militärischen Niederlagen geringer.

Jüngere Soldaten bald an der Front?

Mittlerweile hat auch die ukrainische Führung erkannt, dass eine Reform der Truppe notwendig ist: Seit Dezember ist der ukrainische Kommandant Pavlo Palisa stellvertretender Büroleiter des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein Grund für seine Ernennung war seine eigene Fronterfahrung. Palisa war etwa für die Ukraine in der Schlacht um die Stadt Bachmut im Einsatz, die besonders erbittert geführt wurde. «Er weiss genau, was in den Brigaden an der Front passiert, und ich brauche genau so eine Person, um täglich Informationen aus erster Hand von der Front zu erhalten», sagte Selenskyj zu Palisas neuer Position.

Deputy Head of the Ukrainian President's Office, Col. Pavlo Palisa, speaks during an interview with The Associated Press in Kyiv, Ukraine, Wednesday, Jan. 22, 2025. (AP Photo/Efrem Lukatsky)
Seit Dezember ist der ukrainische Kommandant Pavlo Palisa stellvertretender Büroleiter des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.Bild: keystone

Ende Januar sprach Palisa davon, dass man künftig mehr Soldaten an die Front schicken könnte. Man arbeite vor allem daran, 18- bis 24-Jährige einzuziehen, die aktuell noch vom Dienst verschont sind. Man arbeitet laut Palissa etwa daran, die Bezahlung und die Ausbildung der jungen Soldaten zu verbessern.

Auf eine Wehrpflicht für diese Altersgruppe hatte schon länger die US-Regierung gedrängt. Selenskyj lehnt das allerdings bisher ab. Der ukrainische Präsident stellte sich bisher dagegen, weil er die jüngere Generation seines Landes – und damit dessen Zukunft – nicht für den Krieg opfern will. Ausserdem muss er innenpolitischen Unmut fürchten. Aber angesichts der aktuellen militärischen Lage bleibt der Ukraine wahrscheinlich keine andere Wahl.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
2 Jahre Ukraine-Krieg in 34 Bildern
1 / 37
2 Jahre Ukraine-Krieg in 34 Bildern
Von ihrem Nachbarn überfallen, kämpft die Ukraine ums Überleben. In dieser Bildstrecke schauen wir auf die Ereignisse seit der Invasion Russlands zurück ...
quelle: keystone / bo amstrup
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Ich stelle mein Handy nie auf lautlos» – Oksana erzählt von ihrem Leben seit der Flucht
Das könnte dich auch noch interessieren:
32 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
P.Rediger
26.02.2025 23:15registriert März 2018
Krieg kennt nur Verlierer. Unglaublich, dass Trump den Putin wieder Salonfähig macht, angesichts dessen, dass er für den Verlust von so vielen Menschenleben auf beiden Seiten verantwortlich ist.
5011
Melden
Zum Kommentar
avatar
D.Enk-Zettel
26.02.2025 23:13registriert Oktober 2021
und der Rest von Europa schaut noch zu. Was für ein Trauerspiel. Im Nachhinein wundern sie sich dann, wenn der Irre im Kreml noch irrer wird. macht der Westen tatsächlich nochmals den selben Fehler wie 2014?
3010
Melden
Zum Kommentar
32
Japans Premier will trotz Wahldebakel weitermachen
Japans Ministerpräsident Shigeru Ishiba will trotz des Verlusts der Parlamentsmehrheit seiner Koalition weiterregieren.
Man müsse das Ergebnis «demütig hinnehmen», sagte Ishiba nach der desaströsen Wahl zum Oberhaus in einer Fernsehsendung. Er fügte hinzu, dass seine Liberaldemokratische Partei LDP ihre Verantwortung als Regierungspartei wahrnehmen müsse. Das Regierungslager aus LDP und ihrem Juniorpartner Komeito verfehlte ihr Ziel, die zum Erhalt ihrer Mehrheit im Oberhaus nötigen 50 Sitze zu gewinnen. Im Oktober hatte Ishibas Koalition bereits die Mehrheit im mächtigeren Unterhaus verloren – sie stellt seither eine Minderheitsregierung.
Zur Story