«Russland verurteilt Schweizer Söldner zu 14 Jahren Straflager», titelte der «Blick» Anfang Juli und fügte hinzu: «Doch niemand weiss, wo er ist.» Stimmt das wirklich? Ich treffe Avi Motola in Tel Aviv, in einem Café beim bekannten Carmel-Markt. Der Schaffhauser Jude hat nicht nur die schweizerische Staatsbürgerschaft, sondern auch die israelische und spricht fliessend Hebräisch.
Motolas Finger trommeln nervös auf die Tischplatte. «Ich habe in meinem Leben vieles falsch gemacht, und ich bereue fast alles davon. Wenn man Jugendstrafen mitrechnet, war ich fast zehn Jahre lang in Schweizer Haftanstalten, darunter auch in der Zürcher Pöschwies», erzählt der 49-Jährige. «Es ging vor allem um Gewaltdelikte, Diebstähle und Betrügereien.»
Motola bereitete seiner Mutter ständig Sorgen – bis heute. So ist die alte Dame überzeugt, dass Avi 2019 ihre Pensionskassengelder abgezweigt habe. Sie erstattete Anzeige, und die Schaffhauser Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren wegen Verdachts auf «betrügerischen Missbrauch einer Datenverarbeitungsanlage». Das Bundesamt für Justiz stellte in der Folge sogar ein Rechtshilfegesuch an Israel.
Weil Avi aber eben doch ihr Sohn sei und sie das verlorene Geld ohnehin nie mehr sehen werde, zog die 74-jährige Mutter die Anzeige in der Zwischenzeit zurück. Das erzählt sie in einem gemeinsamen Telefongespräch mit Motola und dieser Zeitung. Daraufhin stellte die zuständige Staatsanwältin das Verfahren ein, wie aus einer entsprechenden Verfügung hervorgeht. Der Staat bezahlte Motola die Kosten seiner Pflichtverteidigerin in Höhe von rund 3200 Franken.
Es gibt nur eine Gesetzesmissachtung, die Avi Motola heute nicht bereut: «Und das ist der Einsatz als Scharfschütze in der Ukraine.» Wenn ein Land, ein Volk ohne eigenes Verschulden vom viel grösseren Nachbarn angegriffen wird, muss man Hilfe leisten. Und das Einzige, was ich gut kann, ist kämpfen.» Das sei die Unterstützung, die er anbieten könne. Die reiche Schweiz sollte sich schämen, dass sie den Verteidigern nicht mehr unter die Arme greife. Ihr gehe es nicht wirklich um Neutralität, die Schweiz habe einfach Angst vor Russland und vor wirtschaftlichen Nachteilen. «Wir sind ein Volk von Feiglingen.»
Natürlich ermittelt auch die Schweizer Militärjustiz gegen den Schaffhauser wegen Verdachts auf fremden Militärdienst. Motola habe im Zeitraum von Februar 2022 bis mindestens Ende 2024 in der «Internationalen Legion des Territoriums der Verteidigung der Ukraine» gekämpft, wie es in der Anklageschrift der Militärjustiz heisst. Allerdings gibt es in der Ukraine keine Formation mit diesem Namen. Der zuständige Auditor, also der militärische Staatsanwalt, meinte wohl die «Internationale Legion zur Verteidigung der Ukraine».
Die Internationale Legion gehört zu den ukrainischen Streitkräften, und der dort bezahlte Sold entspricht jenem, den auch gewöhnliche ukrainische Soldaten erhalten. Für Kampfeinsätze gibt es umgerechnet rund 3900 Franken pro Monat, für Aufgaben in rückwärtigen Gebieten ist es weniger.
Aufgeschreckt wurde die Militärjustiz durch den pro-russischen Telegram-Kanal «Ribar» (Fischer auf Deutsch). Dieser veröffentlichte die Namen und Staatsangehörigkeit zahlreicher Söldner, die auf Seiten der Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpften. Auf der Liste befand sich auch Motola. Hinzu kamen Berichte in diversen Schweizer Medien, auch in dieser Zeitung. Motola machte allerdings nie ein Geheimnis daraus, dass er für eine in seinen Augen gerechte Sache kämpfte, auch wenn die Bezahlung ein wichtiges Motiv darstellte.
Obwohl die Beweislage klar erscheint, ordnete das Militärkassationsgericht eine rückwirkende Überwachung von Motolas Telefonanschluss während sechs Monaten an. Ausserdem wurde der Schaffhauser zur Fahndung ausgeschrieben, aber nur in der Schweiz. Das illustriert, wie zahnlos die hiesige Justiz manchmal agiert. So konnte Motola sich Mitte 2024 auf dem Schweizerischen Generalkonsulat in München einen Notpass ausstellen lassen, um – so der Verdacht des zuständigen Untersuchungsrichters – erneut in die Ukraine zu reisen.
Wegen des Haftbefehls kontaktierte ein Mitarbeiter des Generalkonsulats den Untersuchungsrichter. Dieser antwortete, dass Motola in Deutschland nicht verhaftet werden dürfe. Und der Ausstellung von Ausweispapieren stehe nichts entgegen. Die diplomatische Vertretung solle dem Beschuldigten aber doch bitte ausrichten, dass er sich gelegentlich bei seiner Verteidigerin in der Schweiz melde, damit der Untersuchungsrichter das Strafverfahren abschliessen könne.
Was hat Motola in der Ukraine wirklich gemacht? Er kämpfte in verschiedenen Einheiten, nicht nur in der Internationalen Legion. Häufig war er mit fünf israelischen Kameraden im Einsatz. Die kleine Gruppe unter dem Kommando des Israelis Denis Desyatnik nannte sich intern «Masada 6». Masada war ursprünglich eine Festung auf einem Felsplateau in Judäa, nicht weit vom Toten Meer entfernt. Dort verschanzten sich jüdische Kämpfer vor den römischen Kolonisatoren.
Ein Video der jüdischen Söldner wurde auch im israelischen Fernsehen gezeigt. Darin ist Desyatnik mit dem ukrainischen Rangabzeichen eines Oberstleutnants zu sehen. Der Mann war aber unvorsichtig, wenn er Bilder in den sozialen Medien hochlud. So konnten die Russen zum Beispiel schnell herausfinden, in welchem Hotel in der ostukrainischen Stadt Charkiw die Gruppe logierte. Desyatnik hat sich in der Ukraine mittlerweile durch ein Interview unmöglich gemacht, in dem er meinte, Kiew werde nichts anderes übrig bleiben, als Gebiete an Russland abzutreten.
Und hier beginnen auch Propaganda und Legenden, die sich um die «Masada 6» ranken. Viel besser als die behäbige Militärjustiz in der Schweiz ermittelten russische Nachrichtendienste und private Rechercheure in den sozialen Medien. Daraus werden dann Geschichten kreiert, die manchmal halb wahr und manchmal komplett erfunden sind. Sie müssen einfach Moskaus Propagandamaschinerie dienen.
So wird Avi Motola vorgeworfen, Teil einer inoffiziellen Einheit mit dem Namen «Geister von Bachmut» gewesen zu sein. Diese kleine Gruppe von Scharfschützen soll während der Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut für den Tod mehrerer hundert russischer Soldaten und Wagner-Söldner verantwortlich sein. In anderen Meldungen auf russischen Telegram-Kanälen wird in Propagandamanier gefragt, warum israelische Juden wie Motola den «ukrainischen Nazis» helfen würden, Russen zu töten. Dabei seien die Juden im Zweiten Weltkrieg doch von den Russen aus den Fängen ebendieser Nazis befreit worden.
An Avi Motola scheinen die russischen Nachrichtendienste besonders Gefallen gefunden zu haben. So erzählt der Schaffhauser, dass vor dem Haus, in dem seine israelische Ex-Frau und sein Sohn wohnten, auch schon Russen in Autos mit Diplomatenkennzeichen vorgefahren seien. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht.
Und da ist noch die Verurteilung zu 14 Jahren Straflager durch ein Gericht in der von Moskau annektierten «Volksrepublik Donezk». Laut russischen Meldungen in den sozialen Medien werden Motola Beteiligung am Völkermord an Russen im Donbass und Plünderungen vorgeworfen. Eigenhändig habe er eine Reihe russischer Kriegsgefangener umgebracht, die im Verdacht gestanden seien, ein kleines ukrainisches Mädchen zuerst als Gruppe vergewaltigt und anschliessend mit Messern massakriert zu haben. Doch bei russischer Propaganda fällt es schwer, Fakten von Fiktion zu trennen. Ausserdem ist Russland kein Rechtsstaat. Weder Motola noch andere ehemalige Söldner und Freiwillige können dort ein faires Gerichtsverfahren erwarten.
Heute lebt der Schaffhauser in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Er arbeitet bei einem israelischen Umzugsunternehmen, wo er aber nur wenig verdient. Eigentlich würde er gerne zurück in die Ukraine, um erneut zu kämpfen. Doch er befindet sich in einer Zwickmühle, weil er dann seinen kleinen Sohn nicht mehr sehen könnte.
2023 hat ihn der ukrainische Sicherheitsdienst mit Landesverweis belegt, weil er einer Straftat verdächtigt wurde. Dieser Beschluss wurde aber widerrufen, weil sich die Verdachtsmomente offenbar zerstreuten. Ein Problem bleibt für den schweizerisch-israelischen Doppelbürger aber der russische Haftbefehl, von dem nicht bekannt ist, welche Staaten ihn umsetzen würden. Sicher ist er zumindest in Israel, weil das Land – wie auch die Schweiz – keine eigenen Staatsbürger ausliefert. Unklar bleibt noch, ob Motola zum Gerichtstermin der Militärjustiz Mitte Dezember in die Schweiz reisen wird.
Meinen Respekt hat er.