«Titan»-Trümmerteile geborgen: Geben sie Aufschluss über die Unglücksursache?
Seit elf Tagen arbeiten Einsatzkräfte im Nordatlantik rund um die Uhr: zunächst um das Tauchboot «Titan» zu suchen, nun um seine Trümmerteile zu bergen. Denn seit vergangenem Donnerstag steht fest: Das Tauchboot ist auf dem Weg zum Schiffswrack der «Titanic» implodiert. Experten vermuten, dass die fünf Insassen einen plötzlichen Tod gestorben sein müssen – denn eine Implosion dauert nur wenige Millisekunden.
Maschinen bringen nun nach und nach Trümmerteile des verunglückten Tauchbootes an die Meeresoberfläche. Besonders aufsehenerregend sind Aufnahmen von grossen Wrackteilen, die im Hafen von Neufundland in Kanada zum Transport bereitgemacht wurden. Zudem meldete die amerikanische Küstenwache am Mittwoch, dass «mutmasslich menschliche Überreste» gefunden worden seien.
Aber was wurde bislang genau geborgen, welche Erkenntnisse können die Unglücksforscher daraus ziehen – und gibt es eine Chance, noch Leichname in den Trümmern zu finden?
Kein Fenster gefunden
«Die grossen weissen Teile sind die Abdeckungen, die auf dem Druckkörper montiert waren, um dem U-Boot eine strömungsgünstigere Form zu geben», erklärt U-Boot-Experte Nils Theinert im Gespräch mit t-online. Er ist Doktorand am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Die Abdeckungsteile hätten keine zentrale technische Funktion.
Bei den Aufnahmen des Wrackteils mit den zahlreichen Kabeln handle es sich um den hinteren Teil des Tauchboots, der hinter dem Druckkörper gelegen und technische Komponenten enthalten habe, die dem Wasserdruck ausgesetzt werden konnten, sagt Theinert.
«Zudem wurde mindestens die vordere der beiden Titanhalbschalen geborgen.» Diese habe sowohl den zylindrischen Druckkörper aus Kohlefaser vorne und hinten abgeschlossen als auch die Ringe, die Titan und Kohlefaser verbanden. Das Fenster aus Acrylglas scheine zu fehlen, erläutert der Experte.
Grösse der Wrackteile nicht verwunderlich
Nachdem die US-Küstenwache vergangene Woche das Trümmerfeld aus Wrackteilen des Tauchboots entdeckt hatte, sprach sie von einer «katastrophalen Implosion». Die Grösse der nun geborgenen Wrackteile ist in Anbetracht dessen nicht verwunderlich. «Wenn das U-Boot zusammengedrückt wurde, sind das Teile, die nicht weiter komprimierbar sind», sagt U-Boot-Experte Philippe Epelbaum zu t-online, selbst Betreiber eines Tauchtourenunternehmens in der Schweiz. Nach der Implosion sei der Wasserdruck bei einem flachen Teil, wie etwa der Abdeckung, auf beiden Seiten gleich, sagt Epelbaum.
Anders sieht es beim menschlichen Körper aus. «Die Wucht der Implosion war enorm», sagt Epelbaum. Das habe vor allem Einfluss auf Objekte, die noch Luft beinhalteten – wie etwa Knochen. «In 1000 Metern Tiefe ist der Druck so gross, dass er Knochen komplett zerdrückt. Die Insassen werden nur noch über Kleidung und DNA-Spuren identifizierbar sein», so der Experte.
Nils Theinert ergänzt: «Dass die US-Küstenwache von ‹menschlichen Überresten› spricht, deutet darauf hin, wie zerstörerisch die schockartige Implosion auf die Körper der Insassen gewirkt haben muss.» Für die Angehörigen der Verstorbenen gibt es demnach nahezu keine Hoffnung, eine Trauerfeier mit den Leichnamen vollziehen zu können.
Ähnliche Untersuchungen wie bei einem Flugzeugabsturz
Für die Rekonstruktion des Unfallhergangs sind beiden Experten zufolge jedoch vor allem die Wrackteile der «Titan» von Bedeutung. Man könne damit etwa spezifizieren, wie stark die Implosion gewesen sein muss, sagt Epelbaum.
Dies laufe ähnlich ab wie bei einem Flugzeugabsturz – auch wenn es in diesem Fall keine Blackbox gebe, sagt Theinert. «Jedes Trümmerteil wird genau untersucht.» Hierbei werde insbesondere der zylindrische Druckkörper aus Kohlefaser im Fokus stehen, den keine Klassifikationsgesellschaft zertifiziert hat und den Experten in der Vergangenheit als grosses Sicherheitsrisiko eingestuft hatten.
Bei der Untersuchung würden die Kohlefaserteile unter dem Mikroskop betrachtet, um Rückschlüsse auf mikroskopische Risse und andere Mängel zu ziehen. «Daraufhin wird ermittelt, ob diese Risse auftraten, weil der Druckkörper nicht richtig getestet wurde, weil er keinen Zertifizierungsprozess durchlaufen hatte», sagt Theinert.
«Titan ist elastisch, Kohlefaser eher steif»
Als besonders gefährlich schätzten Experten die Schnittstellen zwischen den Halbkugeln aus Titan und dem Kohlefaserzylinder ein: «Hier treffen zwei Werkstoffe mit unterschiedlichem Verhalten unter Druck aufeinander», erklärt Theinert. «Titan ist elastisch, Kohlefaser eher steif. Bei jedem Tauchgang wurde das U-Boot durch den Wasserdruck zusammengedrückt und dehnte sich beim Auftauchen wieder aus.» Das sei immer eine grosse technische Herausforderung.
Die Behörden in Kanada betonen derweil, dass neben der Begutachtung des Wracks auch die menschliche Komponente bei den Untersuchungen eine Rolle spiele. «Die 'Titan' ist nur eine Komponente des Versagens», sagte Ermittler Marc-André Poisson. Auch mehrere menschliche Faktoren könnten zum Unfall beigetragen haben.
Dauer der Bergungsarbeiten ungewiss
Wie lange die Bergungsarbeiten an der Unglücksstelle noch andauern werden, ist den beiden U-Boot-Experten zufolge noch ungewiss. «Es handelt sich um eine sehr komplexe Operation, da der Unfall in internationalen Gewässern passierte und nicht ganz klar ist, wer zuständig ist», sagt Theinert. Das Mutterschiff der «Titan» sei in Kanada registriert gewesen, das Tauchboot selbst auf den Bahamas, um die Zertifizierung zu umgehen, und die Firma sitze in den USA.
Epelbaum ergänzt: «Ich gehe nicht davon aus, dass da noch lange gesucht wird.» Die derzeitige Aktion sei sehr teuer. «Aber vielleicht werden die Angehörigen die Suche privat weiterfinanzieren, wenn sie eingestellt wird», sagt der Experte mit Blick auf die teils wohlhabenden Personen an Bord.
Der Chefermittler der US-Küstenwache, Jason Neubauer, betonte am Mittwoch: «Es bleibt noch viel zu tun, um die Faktoren zu verstehen, die zum katastrophalen Verlust der 'Titan' geführt haben, und um sicherzustellen, dass sich eine ähnliche Tragödie nicht wiederholt.»

