Wie brutal das neue Abtreibungsurteil des Obersten Gerichtshofs der USA in das Leben von Millionen Frauen eingreift, lässt sich schon jetzt in vielen Bundesstaaten beobachten.
Beispielsweise verkündigte die republikanische Gouverneurin von South Dakota , Kristi Noem, dass selbst Frauen, die vergewaltigt wurden, ein daraus entstehendes Baby austragen müssten. Ihr Argument selbst gegen diesen Anlass für eine Abtreibung: Sie glaube, dass «eine Tragödie nicht der Grund für eine weitere Tragödie sein solle». Es ist eine Begründung, wie sie bei den Protesten vor dem Supreme Court in Washington von tief religiösen Abtreibungsgegnern ebenfalls vorgetragen wird.
South Dakota, im mittleren Westen, ist einer von jenen zehn US-Bundesstaaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche gleich nach dem gefällten Urteil am Supreme Court ganz oder weitgehend verboten wurden. In fünf anderen werden innerhalb der kommenden Wochen vorbereitete Gesetze in Kraft treten. In fünf weiteren Staaten gilt als wahrscheinlich, dass es zu ähnlichen Regelungen kommen wird.
Die Uhren in den Vereinigten Staaten von Amerika laufen immer schneller rückwärts. Weil Donald Trump den Supreme Court mit drei neuen, konservativen Richtern ausstatten konnte, wird diese «Super-Mehrheit» wohl viele Jahre lang bestehen bleiben. Mit schwerwiegenden Konsequenzen: Das Abtreibungsurteil zu «Roe vs. Wade» könnte dabei, so die Befürchtung vieler, erst der Anfang gewesen. die Angst vor einer reaktionären Zeitenwende geht um.
Einer der rechtskonservativsten Richter am obersten US-Gericht ist Clarence Thomas. Er hat bereits mit dem gefällten Abtreibungsurteil angekündigt, dass auch die Supreme-Court-Urteile zur gleichgeschlechtlichen Ehe und zur Empfängnisverhütung künftig gekippt werden könnten. Denn diese würden auf ähnlich dünner Grundlage stehen, wie «Roe vs. Wade». Wie wenig sicher sexuelle Minderheiten in den USA sind, lässt derzeit in den Nachrichten verfolgen. Mitglieder der neo-faschistischen Gruppierung «Proud Boys» terrorisieren Menschen im ganzen Land.
Richter Clarence Thomas deutete inzwischen ausserdem an, ein medienrechtliches Urteil überprüfen zu wollen . Würde es fallen, könnten Medien wegen «bösartiger» Berichterstattung leichter verklagt werden. Die ehemalige Vize-Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin hatte gerade in einem solchen Fall gegen die New York Times verloren .
Der republikanische Senator John Cornyn aus Texas gab derweil auf Twitter zu bedenken , dass im Grunde auch verschiedene Urteile seit 1954 überprüft werden könnten, die einst die Rassentrennung an amerikanischen Schulen beendet haben. Zwar schlug er nicht vor, diese wieder einzuführen. Mit seiner Äusserung aber schien der Republikaner gezielt diese als sicher geglaubten Grundsatzentscheidungen zu deligitimieren. Rassisten können sich von solchen Sätzen ermutigt fühlen. Erst vor wenigen Wochen erschoss ein 19-Jähriger in Buffalo zehn Menschen wegen ihrer Hautfarbe .
Was für viele unglaublich klingen mag, könnte in den USA tatsächlich Realität werden. Die oftmals Jahrzehnte alte Urteile, bei denen vielfach Konsens darüber bestand, dass es Grundsatzurteile sind, werden schon lange mit Klagen angegriffen. Mit der Mehrheit der konservativen Richter können solche reaktionäre Vorhaben jetzt aber plötzlich erfolgreich sein.
Das Problem: Weil sich amerikanische Politiker viel zu lange auf diese Grundsatzurteile verlassen haben, gibt es vielfach keine Gesetze, welche erkämpfte Rechte etwa von Frauen, Schwarzen oder sexuellen Minderheiten rechtlich wirklich absichern. Warum kompliziert nach Mehrheiten suchen, wenn doch eigentlich alles geklärt ist. Was vielen längst als Grundrecht erschien, war letztlich aber eben nicht mehr als eine nur vermeintliche Grundsatzentscheidung.
Das rächt sich jetzt bitter. Denn die konservativen Richter verfolgen hinsichtlich ihrer Urteile eine Auslegungstheorie, die «Originalism» genannt wird. Das heisst im Grunde: Sie legen die Verfassung nicht aus, sondern nehmen sie weitgehend wörtlich. Weil aber in der rund 250 Jahre alten US-Verfassung und auch nicht in den späteren Zusätzen, den sogenannten Amendments, weder von Frauenrechten, noch von Rassismus oder gar von gleichgeschlechtlicher Ehe die Rede ist, können selbst gesprochene Urteile relativ einfach umgestossen werden.
Das Hauptargument des «Originalism» lautet letztlich «Tradition». Was die Gründerväter einst nicht aufgeschrieben haben, ist demnach auch kein Grundrecht, kann also nicht aus der Verfassung hergeleitet werden.
Wie sehr sich die USA durch die konservative «Super-Mehrheit» am höchste Gericht bereits verändern, lässt sich an einer Reihe von Urteilen ablesen, die schon in den Tagen vor der Entscheidung zum Abtreibungsrecht fielen.
So urteilte der Supreme Court innerhalb einer Woche:
Für sich genommen, scheinen die einzelnen Urteile nur in der konkreten Sache entschieden worden zu sein. In der Summe lässt sich aber schnell erkennen, wie sehr die rechtskonservative Agenda, die teilweise seit Jahrzehnten vorbereitet wurde, Ideologie getrieben, endlich umgesetzt werden kann.
Die als Kulturkampf gegen linke Auswüchse inszenierten Vorhaben betreffen immer häufiger auch Schulen, an denen Kinder nach Meinung vieler Republikaner mit Themen wie Rassismus oder sexueller Vielfalt «indoktriniert» werden sollen. Es ist eine teils antiaufklärerische Argumentation, wie man sie aus Ländern wie Russland oder China kennt.
Doch nur vordergründig geht es um solche Inhalte. Hinter den Entscheidungen des Supreme Courts steckt ein längst abzusehender Machtkampf. Gerade die republikanisch regierten Bundesstaaten wollen möglichst viel selbst entscheiden und die Kompetenzen der Bundesregierung in Washington so weit wie möglich beschneiden.
Auch, weil sie wissen, dass sie zumindest in absoluten Zahlen weit von einer klaren Mehrheit auf Bundesebene entfernt sind. Joe Biden bekam rund acht Millionen Stimmen mehr als Donald Trump. Weil die USA aber auf einem sehr speziellen Mehrheitswahlrecht basieren, gehen die Präsidentschaftswahlen oftmals so knapp aus.
Je mehr Gesetzgebungskompetenz die Bundesstaaten, gestützt vom Supreme Court, für sich reklamieren können, desto uneiniger wirken die Vereinigten Staaten. Es liesse sich sagen, dass dies einfach der Lauf dieser Demokratie sei und das Volk in den Bundesstaaten eben über seine jeweilige Regierung abstimmen könne. Problematisch scheint dies aber insbesondere bei Fragen, die tief ins Leben der Menschen eingreifen und die im Zweifel deren Leben gefährden.
Was macht etwa eine arme Frau mit Schwangerschaftskomplikationen im mittleren Westen? Ihr fehlt im Zweifel das Geld für einen Flug nach Kalifornien, wo sie eine Abtreibung noch vornehmen dürfte. Im Notfall fehlt ihr dazu ausserdem schlicht die Zeit. Was macht ein Gefanger, dessen Nieren versagen ohne Dialyse? Was geschieht, wenn mitten in Manhatten plötzlich jeder eine Waffen offen tragen darf?
Als Nächstes könnte es im höchstrichterlich geführten Kulturkampf die Anstrengungen gegen den Klimawandel treffen. In denn kommenden Tagen könnte der Supreme Court entscheiden, dass die EPA, Amerikas oberste Umweltbehörde, ihre Kompetenzen überschreiten würde.
Die Regierung von Joe Biden beruft sich darauf, dass der sogenannte «Clean Air Act» die EPA etwa zur Regulierung von Kraftwerksemissionen befugt. Sollten die Richter entscheiden, dass diese Macht stattdessen auf den Kongress übergeht, könnten die Republikaner jegliche Vorhaben blockieren, egal ob ein Demokrat im Weissen Haus sitzt oder nicht.
Politisch haben diese Urteile, und besonders jene, die wie die Abtreibungsentscheidung tief in das Leben von Betroffenen eingreifen, das Potenzial, den Demokraten bei den anstehen Zwischenwahlen zu helfen. Nachdem sie seit Jahren vor solchen Entwicklungen davor gewarnt haben, was passieren könnte, haben sie jetzt die Beweise, die sie ihren Wählern präsentieren können, damit diese auch wirklich zur Wahl gehen.
Aktuelle Umfragen belegen, dass Wähler der Demokraten wegen der «Roe vs. Wade»-Entscheidung bereits jetzt gewillter sind, ihre Stimme abzugeben. Gut möglich, dass die Republikaner und Tandem mit den Richtern am Supreme Court es zu weit getrieben haben. Ob das aber schon ausreicht, um die traditionell wichtigen Wirtschaftsthemen, wie etwa die aktuelle schwerwiegende Inflation, zu übertreffen, ist offen.
Selbst wenn die Demokraten in der Lage sein sollten, bei den anstehenden Zwischenwahlen im November nicht deutlich zu verlieren, werden sie womöglich trotzdem machtlos bleiben. Gesetze zu verabschieden, wie etwa ein bundesweites Abtreibungsrecht für Frauen, wird ihnen kaum möglich sein. Für die meisten Vorhaben im Senat ist eine derzeit kaum erreichbare Mehrheit von 60 zu 40 notwendig.
In den USA scheint damit der Weg in die Zukunft ziemlich blockiert. Die Judikative orientiert sich in Form des Supreme Courts buchstäblich mehr und mehr an der in der weit zurückliegenden Vergangenheit formulierten Verfassung. Die gesetzgebende Legislative im Form des Kongresses ist politisch gespalten, Kompromisse kommen kaum noch zustande. Und die Exekutive in Form der Biden-Regierung wirkt deshalb handlungsunfähig, was immer mehr zum Unmut in den eigenen Reihen führt.
Zahlreiche Abgeordnete, wie die New Yorker Kongressfrau Alexandria Ocasio-Cortez, erhöhen den Druck auf den US-Präsidenten, der neben der brisanten innenpolitischen Lage auch die Aussenpolitik und den Krieg in der Ukraine managen muss. Biden müsse endlich handeln und etwa Abtreibungskliniken auf Grund und Boden des Bundes in den Bundesstaaten errichten. Die Richter sollen des Amtes enthoben werden. Ausserdem solle der sogenannte Filibuster abgeschafft werden, also jene spezielle Regelung im US-Gesetzgebungsverfahren, die immer wieder zur Totalblockade durch die Republikaner führt. Kritiker warnen jedoch bereits.
Würden die Demokraten den Filibuster abschaffen, fehlt ihnen in Zukunft dieses Mittel zur Blockade selbst. Nämlich dann, wenn sie die Mehrheit im Senat verlieren würden. Die Agenda der Republikaner würde dann nicht mehr nur juristisch am Supreme Court Erfolg haben, sondern auch gesetzgeberisch im Parlament.
Joe Biden bleibt derzeit kaum mehr als an seine Wähler zu appellieren, sie hätten die weitere Entwicklung des Landes buchstäblich in den Händen, indem sie ihr Kreuz bei den Wahlen machen würden. Zu oft aber wurden die Menschen hierzulande enttäuscht, zu oft konnten sich die Demokraten intern nicht einigen, Fortschritte zu erzielen.
Mit jedem weiteren Misserfolg wächst das Gefühl der Ohnmacht, was letztlich zu populistischen Auswüchsen, wie jenen eines Donald Trump führt, der sich bewusst gegen die politischen Eliten inszeniert. Die wichtigste Macht im Westen bleibt deshalb auf unbestimmte Zeit ein Unsicherheitsfaktor, auch im Zusammenspiel mit den übrigen demokratischen Partnern.
Verwendete Quellen: