Der Schwangerschaftsabbruch in den USA fällt von nun an in die Kompetenz der einzelnen Bundesstaaten. Auf diesen simplen Nenner lässt sich die Aufhebung des Urteils im Fall Roe vs. Wade von 1973 durch den Obersten Gerichtshof am letzten Freitag bringen. Während fast 50 Jahren hatte dieser Grundsatzentscheid die Abtreibung landesweit legalisiert.
Damit ist es vorbei. Kaum wurde der Entscheid des Supreme Court publik, traten in mehreren republikanisch dominierten Staaten sogenannte «Trigger-Gesetze» in Kraft. Sie waren in Erwartung des Gerichtsurteils verabschiedet worden und verbieten Abtreibungen mit wenigen Ausnahmen. Frauen standen unvermittelt vor geschlossenen Kliniktüren.
In anderen Staaten gibt es ähnliche Gesetze mit einer Übergangsfrist. Doch damit endet der «Wildwuchs» nicht. Wenn die rechte Mehrheit des Supreme Court glaubte, mit ihrem Urteil Klarheit geschaffen zu haben, täuschte sie sich gewaltig. «In den nächsten Monaten haben wir ein totales Chaos», sagte die Rechtsprofessorin Greer Donley der «Washington Post».
Denn die Aufhebung von Roe vs. Wade öffnet einen tiefen Graben zwischen liberalen und konservativen Bundesstaaten. Experten meinen, die Spannungen seien so hoch wie nie seit dem erbitterten Streit um die Sklaverei im 19. Jahrhundert. In Missouri wird etwa ein Gesetz erwogen, das den Einwohnerinnen eine Abtreibung in einem anderen Staat verbieten will.
Selbst das in diesen Staaten tätige medizinische Personal, das die Abtreibung durchführt, soll bestraft werden können. Dies erzeugt eine Gegenreaktion in von den Demokraten regierten Staaten. Sie wollen Patientinnen und Ärzteschaft vor solchen Strafmassnahmen schützen. Dazu gehören etwa die Westküsten-Staaten Kalifornien, Oregon und Washington.
Zu einem Hotspot könnte das liberale Illinois werden, das von abtreibungsfeindlichen Regionen «umzingelt» ist. Denn die Zeit ist seit Roe vs. Wade nicht stehengeblieben. Heute gibt es wesentlich mehr Möglichkeiten für einen Schwangerschaftsabbruch. So wollen Aktivisten laut der «New York Times» mobile Kliniken an den Staatsgrenzen einrichten.
Besonders im Fokus sind die Abtreibungspillen, die den Abbruch erheblich erleichtern. Sie können bis zur zehnten Schwangerschaftswoche eingenommen werden und kommen laut «New York Times» bei mehr als der Hälfte aller Abtreibungen in den USA zum Einsatz. Dies ist nicht zuletzt eine Folge von Corona, denn sie können zu Hause verwendet werden.
Die Arzneimittelbehörde FDA hat im letzten Dezember eine weitere Hürde beseitigt, indem Ärztinnen und Ärzte die Abtreibungspillen auch via Telemedizin verschreiben können. Ein persönliches Beratungsgespräch ist nicht mehr notwendig. Konservative Staaten wie Arkansas oder Texas wollen deshalb den Postversand dieser Pillen verbieten.
Im Prinzip dürfen Ärzte sie nur innerhalb des Staates verschreiben, in dem sie praktizieren. Findige Abtreibungsbefürworter haben «Deckadressen» eröffnet, von wo aus sie an die eigentlichen Empfängerinnen weitergeleitet werden, in einer neutralen Verpackung. Auch ausländische Organisationen bieten Amerikanerinnen die Abtreibungspillen an.
US-Justizminister Merrick Garland prüft zudem laut einer Mitteilung vom Freitag Klagen gegen Bundesstaaten, die solche Medikamente verbieten, da eine Zulassung durch die FDA eigentlich für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten gültig ist. Experten zweifeln jedoch, ob die Bundesregierung in solchen Fällen ein «Durchgriffsrecht» besitzt.
Eine Flut an Rechtsstreitigkeiten ist so oder so absehbar. So könnten Gesetze, die Frauen eine Abtreibung in einem anderen Staat verbieten wollen, gegen das verfassungsmässige Recht auf Bewegungsfreiheit verstossen. Richter Brett Kavanaugh, der für die Aufhebung von Roe vs. Wade gestimmt hatte, wies in seiner separaten Urteilsbegründung darauf hin.
Der von Donald Trump ernannte Kavanaugh steht in der Kritik. Er soll der republikanischen Senatorin Susan Collins vor seiner Bestätigung hoch und heilig versprochen haben, der «Präzedenzfall» Roe vs. Wade werde nicht angetastet. In einer CBS-Umfrage lehnen 59 Prozent aller Befragten und 67 Prozent der Frauen den Entscheid des Supreme Court ab.
Er hat nicht nur zu einem grossen Durcheinander geführt, sondern auch den Kulturkampf verschärft. Und weitere Kontroversen zeichnen sich ab, etwa um die «Pille danach», die Frauen nach ungeschütztem Sex einnehmen, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Sie wird eher den Verhütungs- als den Abtreibungsmedikamenten zugerechnet.
Geht es nach dem ultrarechten Richter Clarence Thomas, droht der Empfängnisverhütung oder der «Ehe für alle» ein Schicksal wie Roe vs. Wade, da ihre Legalisierung auf dem gleichen «Recht auf Privatsphäre» basiert, das der Oberste Gerichtshof beim Urteil von 1973 als Begründung für die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs verwendete.
Sollte die rechte Mehrheit des Supreme Court auch in diesen Fällen das Rad der Zeit zurückdrehen, sind noch grössere Kontroversen absehbar als nach dem Urteil vom Freitag. Und ein noch grösseres Chaos zwischen den amerikanischen Bundesstaaten.
Zurück ins Mittelalter. Anders kann man das nicht beschreiben.