Am Dienstag hat ein Attentäter in Uvalde, Texas 19 Kinder und 2 Lehrpersonen erschossen. Möglicherweise hätte es noch mehr Opfer gegeben, wenn Lehrpersonen und Schüler das korrekte Verhalten bei einem Attentat nicht bereits verinnerlicht hätten.
Denn in Amerika werden Schulkinder von klein auf darauf vorbereitet, dass ein bewaffneter Attentäter in ihre Schulen eindringen und ein Blutbad anrichten könnte. Während sogenannter Shooter-Drills werden ihnen die Strategien zum Überleben eingebläut.
watson hat mit Jacqueline gesprochen, die als Kind in den USA wieder und wieder bei solchen Übungen gedrillt wurde. Vielleicht retteten diese Drills tatsächlich Leben, meint Jacqueline, aber sie seien eher Symptombekämpfung. Denn das eigentliche Problem lösten sie nicht: das Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen.
Die amerikanischen Shooter-Drills in 4 Punkten thematisiert:
Bei den Shooter-Drills wird mehrmals jährlich geübt, wie man sich grundsätzlich verhalten soll, wenn ein Amokläufer im Gebäude ist: Die Schüler sollen sich verbarrikadieren oder verstecken, während die Lehrer das Licht im Zimmer löschen und die Rollläden herunterlassen. Danach sollen sich alle mucksmäuschenstill verhalten.
Jacqueline erinnert sich an ihre Shooting-Drills:
Je nach Bundesstaat finden diese Drills nicht gleichhäufig statt. Allerdings üben bereits die jüngsten, wie sie überleben sollen. Auch Jacqueline erinnert sich, dass sie von der Primarschule bis in die Highschool diese Praxis durchlief.
Heutzutage gibt es in mindestens 42 Staaten Gesetze, die Notfallübungen in Schulen vorschreiben. Acht von ihnen schreiben zudem vor, dass es sich dabei um «Active-Shooter-Drills» handeln müsse. Also möglichst realitätsnahe Übungen.
Da Schulen nur selten über die Ressourcen verfügen, solche Active-Shooter-Drills selbstständig durchzuführen, wenden sie sich an private Unternehmen, deren Geschäftsmodell es ist, Kinder und Lehrer auf den Ernstfall vorzubereiten: In Szenarien schleicht ein bewaffneter «Attentäter» auf dem Schulgelände umher, echte Polizei ist anwesend – alle mit gezückten (Modell-)Waffen.
Einer der grössten Anbieter solcher Active-Shooter-Drill-Szenarien ist das «Alice Training Institute». Alice ist dabei ein Akronym und steht für Alert, Lockdown, Inform, Counter und Evacuate (alarmieren, abriegeln, informieren, gegensteuern und evakuieren).
Das Alice-Programm propagiert, dass ein blosses Verbarrikadieren und das Warten auf Hilfe die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass man sterbe. Darum wird eine «proaktive» Reaktion auf eine Schiesserei geübt. Und so lehrt das Alice-Programm die Schüler unter anderem, sich mit kleinen Gegenständen zu bewaffnen, um diese dem Angreifer entgegenzuschleudern oder diesen zu überwältigen – allerdings nur im äussersten Notfall.
Das Alice-Programm ist mittlerweile im ganzen Land verbreiten und wurde zum Standard für viele Schulübungen.
Jaclyn Schildkraut, Professorin für Strafjustiz an der State University of New York in Oswego, untersucht den Nutzen von Active-Schooter-Drills. Die Übungen sind ihrer Meinung nach notwendig, weil sich die Kinder und Jugendlichen «besser vorbereitet und gestärkt fühlten». Zudem sei es besser, etwas zu haben und es nicht zu brauchen, als es zu brauchen und es nicht zu haben, sagte sie kürzlich der «New York Times».
Im Fall von Uvalde sollen die Kinder von mindestens einer Klasse dank des Shooter-Drills überlebt haben.
«Die Kinder krochen dann unter die Tische», berichtet die Mutter eines überlebenden Kindes dem «Spiegel». Der Attentäter ging am dunklen Klassenzimmer vorbei. Ein paar Türen weiter richtete er sein Blutbad an.
Eine andere Meinung als Schildkraut vertritt Megan Carolan, Vizepräsidentin für Forschung am Institute for Child Success. Sie sagt der «New York Times»: «Es gibt keine stichhaltigen Beweise dafür, dass diese Übungen hilfreich sind.»
Zudem gibt es Studien, die den Zusammenhang mit Angstzuständen und Stress bei Jugendlichen untersuchen, die (Active-)Shooter-Drills auslösen können. Jacqueline bestätigt Angstzustände aus persönlicher Erfahrung:
Karen McDonald, die Staatsanwältin von Michigan, sagt der «New York Times»: «Wir können uns wirklich nicht aus dieser Tragödie heraustrainieren.» Viel wichtiger wären strengere Waffengesetze und psychologische Beratung, damit Schüler lernten, mit starken Emotionen umzugehen.
Auch Jacqueline geriet einmal in den Fokus eines Jugendlichen, der psychologische Hilfe brauchte – und diese wohl gerade noch rechtzeitig bekam. Er verfasste nämlich eine Todesliste mit Namen von Schülern und Lehrer, die er erschiessen wolle. Jacquelines Name stand auch darauf.
Beim Schüler handelte es sich um den Bruder einer Freundin. Der Junge wurde von der Schule suspendiert und bekam Hilfe in einer Jugendpsychiatrie. Doch sie sagt:
Jacqueline spricht davon, dass sich potenzielle Attentäter womöglich inspiriert fühlen könnten durch solche Drills.
Auch das «Alice Training Institute» thematisiert diesen Aspekt auf seiner Website, wobei Attentäter als «zukünftiger Feind» bezeichnet werden. Da die Gefahr bestünde, dass man diesen Feind trainiere und inspiriere durch das Programm, würde man die Kinder dahingehend ausbilden, dass der Schütze nicht vorhersagen könne, was die Angegriffenen tun würden. Wie sie das machen, verraten sie auf der Website nicht.
Seit dem Massaker in Uvalde diskutieren die Amerikaner über weitere mögliche Lösungen, um ihre Kinder zu schützen. Dabei wird vor allem die Frage nach einer Verschärfung des Waffengesetzes heiss diskutiert. Und ist in gewissen Kreisen auch hochumstritten.
So hat der konservative US-Sender Fox-News seit Dienstag zig Möglichkeiten diskutiert, wie man Attentate in Schulen zukünftig verhindern könnte – das Verschärfen der Waffengesetze wurde nie genannt. Dafür Dinge wie: Beten und zur Kirche gehen, Todesstrafe für Attentäter einführen, Lehrer/alle bewaffnen oder schusssicheres Glas in Schulen verbauen.
Here are 50 solutions Fox News offered after the Uvalde massacre. None of them address easy access to guns.https://t.co/zgRMPeprPVpic.twitter.com/1wpMpnJ0td
— Media Matters (@mmfa) May 25, 2022
Andere fordern endlich Regulierungen bezüglich der Waffengesetze – so auch der US-Senator Chris Murphy sowie der amerikanische Präsident Joe Biden. Nur wenige Stunden nach der Schiesserei am Dienstag wandte er sich an die Nation und forderte Demokraten und Republikaner auf, strengere Waffenkontrollgesetze zu erlassen: «Wir als Nation müssen uns fragen, wann in Gottes Namen wir der Waffenlobby die Stirn bieten werden. Wann, in Gottes Namen, tun wir, wovon wir alle aus dem Bauch heraus wissen, dass es getan werden muss?»
Biden und seine Frau Jill werden am Sonntag nach Uvlade reisen, um mit den Hinterbliebenen gemeinsam zu trauern.
Zum Abschluss des Gespräches erklärt Jacqueline, dass auch sie davon überzeugt sei, dass das einzige, das wirklich Leben rette, eine Regulierung des Zugangs zu Waffen sei – und nicht etwa ein Shooting-Drill. Zudem müssten ihrer Meinung nach endlich echte Background-Checks durchgeführt werden, wenn jemand eine Waffe erwerben wolle.
Sie sagt aber auch, dass man hier in der Schweiz gar nicht nachvollziehen könne, dass strengere Gesetze alleine das Problem in Amerika nicht lösen werden. Denn das «Mindset» der Amerikaner müsse geändert werden. Waffen seien ein Statussymbol in den Staaten: Menschen würden mit ihren Waffen protzen und damit in den sozialen Medien posieren – und dies wäre völlig selbstverständlich. Sie schliesst mit den Worten:
Beten, in die Kirche gehen, alle bewaffnen, u.Ä. als Lösungsvorschläge... Das schlimmste dabei ist: die meinen das wirklich ernst!