«Trump won»! Davon sind gemäss Umfragen rund 30 Prozent aller Amerikaner überzeugt. Sie glauben demnach, dass Donald Trump der Wahlsieg vor zwei Jahren «gestohlen» wurde und die Präsidentschaft von Joe Biden eine Big Lie sei, eine grosse Lüge. Der Ex-Präsident selbst betont noch heute bei jedem seiner Auftritte, er habe die Wahl gewonnen.
«Trump won»? Ein einziges Mal habe ich auf meiner Mietwagenfahrt durch die ländlichen Regionen von Pennsylvania, West Virginia und Virginia ein solches Schild am Strassenrand erblickt. Diese Gegenden sind Hochburgen der Republikaner. Öfter zu sehen war ein anderes Schild: «Don’t blame me. I voted for Trump». Eine zumindest ambivalente Message.
Die USA sind ein politisch tief gespaltenes Land. Das ist eine Art Binsenweisheit. Oft übersehen wird, dass es eine breite Mitte gibt, die Mühe hat mit der immer schärferen Polarisierung der beiden grossen Parteien. Ambivalent war denn auch die Gefühlslage auf meiner Reise durch den Osten der USA, der ersten seit Trumps Wahlsieg 2016 und Corona.
Sie führte mich an geschichtsträchtige Orte (Philadelphia, Gettysburg, Harpers Ferry, Charlottesville, Monticello, Appomattox, Colonial Williamsburg, Yorktown), nach Washington mit dem grandiosen Museum of African American History and Culture und zum Abschluss für einige Tage in meine Lieblingsstadt New York. Es war ein Trip durch die Vielfalt der USA.
Einmal mehr zeigte sich, dass dieses riesige Land sich einer simplen Schubladisierung entzieht. Das gilt auch für die Zwischenwahlen vom nächsten Dienstag. Lange sah es gut aus für die regierenden Demokraten. Zuletzt aber hat der Wind in den Umfragen gedreht. Sie könnten die Mehrheit im Repräsentantenhaus und sogar im Senat verlieren.
Die Wählerschaft wolle die Regierung Biden «bestrafen», heisst es in führenden US-Medien, vor allem wegen Wirtschaft und Kriminalität. Es sind Kernthemen der Republikaner. Nicht hilfreich für die Demokraten ist, dass ein Hoffnungsträger wie John Fetterman, Senatskandidat in Pennsylvania, in der Fernsehdebatte einen schwachen Auftritt hinlegte.
Wie «schlimm» aber steht es wirklich um das Land? Die Inflation betrug zuletzt 8,2 Prozent. Das Leben ist eindeutig teurer geworden. Auf meiner Reise zahlte ich für Benzin zwischen 3,50 und 4 Dollar pro Gallone (entspricht knapp vier Liter). Das ist im Vergleich mit der Schweiz lächerlich wenig, aber im Autoland Amerika ist es für viele schmerzhaft.
Die Preise sind auch sonst gestiegen. Hotelzimmer sind vor allem in den Städten fast absurd teuer, was auch an den Folgen der Corona-Pandemie liegt. Einige Häuser haben in dieser Zeit dichtgemacht. Gleichzeitig nimmt der Service ab, ist die tägliche Zimmerreinigung nicht mehr garantiert. Was zu einem weiteren, oft übersehenen Aspekt der Wirtschaftslage führt.
Gerade in den Städten findet man kaum politische Schilder, dafür viele, auf denen «Now hiring» steht. Restaurants müssen die Öffnungszeiten einschränken, weil es an Personal mangelt, selbst in der «City that doesn’t sleep». Der US-Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet. Long Covid spielt dabei eine Rolle, aber es werden nach wie vor auch viele Jobs geschaffen.
Selbst Ökonomen geben zu, dass sich die Wirtschaft in den USA nicht nach den üblichen «Regeln» entwickelt. Trotz Inflation wird weiter kräftig konsumiert. Renzo Ruf, der USA-Korrespondent von CH Media, erzählte mir beim Nachtessen in Washington von seinen Sommerferien in Maine ganz im Nordosten des Landes: Restaurants voll, Hotels voll.
Das mögen Momentaufnahmen sein. Es gibt auch in Amerika einen Corona-Nachholeffekt, und viele leiden unter Teuerung und hohen Zinsen. Aber das Bild bleibt ambivalent. Das gilt auch für die Kriminalität. Sie ist vor allem in den Städten gestiegen. Während meines Aufenthalts in New York sorgten Gewalttaten in der Subway für Aufsehen.
Bürgermeister Eric Adams und Gouverneurin Kathy Hochul, die einen harten Kampf um ihre Wiederwahl ausfechten muss, verstärkten die Polizeipräsenz in der U-Bahn. Wer sich aber an das New York der 1980er-Jahre erinnern kann, schüttelt den Kopf. Damals wurde man als Tourist sogar auf dem Times Square in Manhattan von Drogendealern angemacht.
Heute wirkt diese Vorstellung bizarr. Aber für die heutigen Bewohner spielt das keine Rolle. Für sie zählt die subjektive Wahrnehmung, und die ist oft negativ. Besonders verängstigt wirken die New Yorker auf mich dennoch nicht. Das grösste Problem der Stadt sind die Folgen der Corona-Lockdowns, von denen sie sich noch nicht vollständig erholt hat.
Werden Inflation und Kriminalität also den Ausgang der Midterms entscheiden? Oder ist es ein Faktor, der zuletzt ein wenig in den Hintergrund gerückt ist: die Aufhebung des fast 50 Jahre alten Grundrechts auf Abtreibung durch den Obersten Gerichtshof im Juni? Nach Ansicht einiger US-Kommentatoren ist das Thema «gegessen» und die Empörung verraucht.
Die Umfragen deuten darauf hin. Demnach spielen Abtreibungen für das Wahlverhalten nur eine untergeordnete Rolle. Dieser Eindruck aber könnte täuschen. Denn eine klare Mehrheit der Frauen in den USA befürwortet den Schwangerschaftsabbruch. Viele betrachten das Urteil des Supreme Court als Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper.
Experten aus den USA bezeichnen Abtreibungen als «Schläfer-Thema», das erst in den Wahllokalen seine Wirkung entfalten werde. Elaine Kamarck von der Denkfabrik Brookings etwa beurteilt die jüngsten Umfrageresultate zu diesem Thema «ein wenig skeptisch», wie sie dem Fernsehsender ABC sagte. Denn das Interesse der Frauen daran sei «enorm».
Anzeichen dafür sind vorhanden. Die Zahl der registrierten Wählerinnen hat teilweise stark zugenommen. Die Rede ist vom Dobbs-Effekt, in Anspielung auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs. Seither konnten die Demokraten ihren Stimmenanteil bei mehreren Nachwahlen für den Kongress gegenüber 2020 steigern und verblüffende Erfolge verbuchen.
Kann es sein, dass dieses Momentum verpufft ist? Dagegen spricht die für Midterms ungewöhnlich hohe Zahl an Früh- und Briefwahlstimmen. Beim Wahlverhalten der Frauen könnten sich «sehr kleine Bewegungen in sehr, sehr grossen Zahlen auswirken», sagte Elaine Kamarck auf ABC. Denn Frauen machen die Mehrheit des Elektorats aus.
Es scheint möglich, dass die Mobilisierung durch den Dobbs-Effekt bei den Midterms 2022 genauso unterschätzt wird wie jene durch den Trump-Effekt bei den Wahlen 2016 und 2020. Das würde den Demokraten einen Booster bescheren. Es kann aber auch sein, dass sich die Umfragen bewahrheiten und die Republikaner den Kongress übernehmen.
Knapp eine Woche vor dem Wahltermin ist der Ausgang offener, als man glauben könnte. Auch auf meiner Reise ergab sich kein klares Bild. Der Eindruck bleibt zwiespältig, und das passt eigentlich perfekt zu diesem ebenso verstörenden wie faszinierenden Land.
Ein verstörendes und faszinierendes Land - das trifft es wohl ganz gut. Wobei ich mehr auf der verstörten als der faszinierten Seite bin.