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Verbrechen

Messerangriff in Annecy: «Er war deprimiert, hatte dunkle Gedanken»

Roses lay at the playground after a knife attack Thursday, June 8, 2023 in Annecy, French Alps. A a man with a knife stabbed four young children at a lakeside park in the French Alps on Thursday, assa ...
Rosen, die nach der Messerattacke in Annecy am Spielplatz niedergelegt wurden.Keystone

Was wir zur Tat in Annecy wissen und was Familienangehörige zum mutmasslichen Täter sagen

Der Angriff in Annecy, für den es weiterhin kein erkennbares terroristisches Motiv gibt, löst eine Welle der Erschütterung aus. Familienangehörige des mutmasslichen Täters beschreiben in Interviews das schwierige Leben des jungen Mannes.
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09.06.2023, 11:1509.06.2023, 11:36
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Ein mit einem Messer bewaffneter Geflüchteter aus Syrien verletzte am Donnerstagmorgen sechs Menschen, darunter vier Kleinkinder, in einem Park in Annecy in Frankreich.

«Der Angreifer, ein politischer Geflüchteter ohne festen Wohnsitz, der im Herbst 2022 in Annecy angekommen war, stand weder unter Drogen- noch unter Alkoholeinfluss.»
Line Bonnet-Mathis, Staatsanwältin von Annecy
Angreifer von Annecy hat auch in der Schweiz Asyl beantragt
Der Angreifer einer Messerattacke im französischen Annecy hat auch in der Schweiz Asyl beantragt. Den Asylantrag hat er dann aber wieder zurückgezogen. Das bestätigt das Staatssekretariat für Migration SEM am Freitag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Der Angreifer hatte am Donnerstag auf einem Spielplatz vier Kinder und zwei Erwachsene mit einem Messer verletzt. Er wurde darauf von Polizisten überwältigt und festgenommen. Ein Motiv für die Tat ist bisher nicht bekannt. Er habe aber nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen gestanden, teilte Staatsanwältin Line Bonnet-Mathis mit. Auch Hinweise auf ein terroristisches Motiv gab es aber nach Angaben der Behörden nicht.
Bekannt ist, dass der Täter sich erst seit wenigen Monaten in Frankreich aufgehalten hat. Zuvor habe der Syrer zehn Jahre lang in Schweden gelebt, hatte Premierministerin Élisabeth Borne gesagt. In Frankreich sei er ohne festen Wohnsitz gewesen. Für die europäischen Sicherheitsbehörden sei der Mann ein Unbekannter, es liege nichts zu ihm vor. Es gebe auch keine Hinweise auf eine psychiatrische Behandlung in der Vergangenheit.
Obwohl der Mann in Schweden als Asylbewerber anerkannt war, hatte er im vergangenen Jahr auch in Frankreich Asyl beantragt. Wie der Sender BFMTV berichtete, sei dieser Asylantrag vor vier Tagen abgewiesen worden. (sda)

«Derzeit gibt es keine Hinweise, die uns glauben lassen könnten, dass es eine terroristische Motivation gibt», erklärte die Staatsanwältin von Annecy am Donnerstagnachmittag. Und weiter:

«Wir versuchen, sein Motiv zu verstehen, ich kann zum jetzigen Zeitpunkt eine sinnlose Tat nicht ausschliessen.»
Line Bonnet-Mathis

Eine psychiatrische Untersuchung sei für Freitagmorgen angesetzt, sagte der französische Innenminister Gérald Darmanin. Premierministerin Élisabeth Borne reiste an den Ort des Geschehens, um die volle Unterstützung und Solidarität der Nation zum Ausdruck zu bringen:

«Wir sind erschüttert über diese abscheuliche, unaussprechliche Tat»
Élisabeth Borne

Die vier verletzten Kinder im Alter von 24 bis 36 Monaten wurden nach einer ersten Behandlung vor Ort nach Genf und Grenoble gebracht:

«Ihr Gesundheitszustand ist instabil, sie befinden sich noch immer in absoluter Notlage.»
Elisabeth Borne

«Feiger Angriff»

Ein Erwachsener wurde ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er zuerst vom Angreifer verletzt und dann während der Festnahme von den Schüssen der Polizei getroffen worden war. Ein weiterer Erwachsener wurde leichter verwundet. Der französische Präsident Emmanuel Macron verurteilte seinerseits einen «absolut feigen Angriff»:

Der 1991 geborene Syrer hatte 2013 in Schweden Asyl erhalten, dort lebte er zehn Jahre lang:

«Er erhielt die schwedische Staatsbürgerschaft nicht und entschied sich deshalb, wieder auszureisen. Wir haben uns getrennt, weil ich Schweden nicht verlassen wollte.»
Die Ex-Frau des mutmasslichen Täters

Seine Mutter lebt seit zehn Jahren in den USA. Sie stehe «unter Schock». Über ihren Sohn sagte sie, er habe an einer «schweren Depression» gelitten:

«Er hat mir nichts gesagt. Ich erfuhr alles über meine Schwiegertochter. Sie sagte, dass es ihm nie gut ging, er war immer deprimiert, hatte dunkle Gedanken, wollte das Haus nicht verlassen, wollte nicht arbeiten. Er hat die Staatsbürgerschaft beantragt und wurde abgelehnt, nur schon, weil er in der syrischen Armee war. Das hat ihn wahrscheinlich verrückt gemacht.»
Die Mutter des mutmasslichen Täters

«Beunruhigender Zufall»

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Die Polizei reagierte umgehend auf den Notruf – der Täter wurde in nur 4 Minuten festgenommen.Bild: keystone

Der mutmassliche Täter ist selbst Vater eines dreijährigen Kindes. Er erhielt vor einigen Monaten einen legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich. Hier hatte er im November einen neuen Asylantrag gestellt. Laut einer Polizeiquelle habe er sich dabei als «Christ aus Syrien» bezeichnet. Bei seiner Festnahme trug er ein Kreuz am Hals.

Laut dem französischen Innenminister Gérald Darmanin hatten die französischen Behörden ihm am vergangenen Sonntag mitgeteilt, dass ihm Frankreich kein Asyl erteilen könne, da er dieses bereits in Schweden erhalten habe. Auf die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dieser Ablehnung und der Tat sprach er von einem «beunruhigenden Zufall»:

«An diesem Sonntag war der Syrer von der Polizei kontrolliert worden, weil er sich angeblich im See von Annecy gewaschen hatte. Er wurde durchsucht, aber es gab nichts, was man ihm hätte vorwerfen könnte.»
Gérald Darmanin, französischer Innenminister

«Im Namen von Jesus!»

Der Angriff ereignete sich gegen 9:30 Uhr auf einem Spielplatz am Rande des Jardin de l'Europe im historischen Zentrum von Annecy. Der Mann in schwarzen Shorts und mit einem blauen Tuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte, ging auf die Kinder los, wie Aufnahmen des Dramas zeigen. Auf dem Video ist zu sehen, wie er die Arme in den Himmel streckt und auf Englisch «In the name of Jesus!» ruft.

Dieser Schrei allein rechtfertige noch keine Befassung der Antiterrorismusbehörde. Dies sagt eine mit dem Fall vertraute Quelle, die erklärte, dass ähnliche Entscheidungen bereits für Personen getroffen wurden, die bei der Tat «Allahu akbar» («Gott ist gross») riefen, aber keine Hinweise auf eine dschihadistische Ideologie aufwiesen.

Andere Bilder, die von der Presse verbreitet wurden, zeigen den Mann mit einem Messer in der Hand über einen Rasen rennend. «Ein Klappmesser vom Typ Opinel», sagte die Staatsanwältin. Laut verschiedenen Zeugenaussagen versuchte der Angreifer zu fliehen und griff eine ältere Person an, bevor er von der Polizei festgenommen wurde. Die Rettungskräfte wurden um 09:41 Uhr alarmiert, der Mann ist nur vier Minuten später festgenommen worden, wie aus einer von der Polizei verbreiteten Zeiterfassung hervorgeht.

«Entsetzlich»

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Der Bürgermeister von Annecy, François d'Astorg.Bild: keystone

Der Angriff versetzte die normalerweise sehr ruhige Stadt am See in Angst und Schrecken:

«Was passiert ist, ist inakzeptabel und entsetzlich. So etwas ist in Annecy noch nie passiert.»
François d'Astorg, Bürgermeister von Annecy

Ein Krisenstab, die Möglichkeit zur psychologischen Unterstützung und ein Informationssystem für die Öffentlichkeit wurden eingerichtet. Der Spielplatz wurde am Nachmittag wieder geöffnet und geschmückt: ein Dutzend Blumensträusse zum Gedenken an die Verletzten, weisse Rosen, ein Papier mit einem gezeichneten Herz und Botschaften an die Kinder.

Die Reaktionen

Der Angriff löste eine Lawine von Reaktionen in der Politik aus, wobei rechte und rechtsextreme Abgeordnete die Herkunft und den Status des Angreifers in den Vordergrund stellten.

Ein rechtsextremes Kollektiv demonstrierte am Abend in Annecy trotz eines von der Präfektur erlassenen Verbotsdekrets. Zwischen 30 und 50 Aktivisten sangen zur vereinbarten Zeit die Marseillaise, bevor sie sich in Richtung des Parks begaben und sich dann unter Aufsicht der Ordnungskräfte friedlich auflösten. (ats/jch)

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BLUTTAT IN ANNECY
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BLUTTAT IN ANNECY
Journalisten arbeiten in der Nähe des Tatortes – ein Parkplatz in der Nähe des Annecy-Sees.
quelle: afp / jonathan nackstrand
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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Schneider Alex
09.06.2023 14:15registriert Februar 2014
Es scheint, als dass auch in den «asylfreundlichen» Ländern Europas immer mehr Menschen genug von der Ohnmacht der Politiker haben. Sie verlangen mehr als nur eine Reduzierung des Zustroms, sondern eine grundsätzliche Kehrtwende in der Asyl- und Migrationspolitik.
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stormcloud
09.06.2023 14:42registriert Juni 2021
Mal ehrlich:
Wenn jemand schwere Depressionen hat verkriecht er/sie sich irgendwo. Dort wo keine anderen Menschen sind, also bestimmt läuft ein Mensch nicht dauernd im Park rum.
Und schwer Depressive haben schon größte Mühe, an den Briefkasten zu gehen oder sich ein Spiegelei zu braten...
Neuere Forschungen haben auch das Symptom "Wut" bei Männern dabei als depressive Störung auf dem Schirm. Aber wenig vorstellbar, dass dann kleine Kinder lebensgefährlich angegriffen werden. Für so was bedarf es mit Sicherheit eines gewaltigen Schadens im Kopf!
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Alnothur
09.06.2023 15:25registriert April 2014
Ach, man muss den Täter doch verstehen, der hat das gemacht, weil er von seinen Fluchterlebnissen traumatisiert ist und so /s
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