Sie kam ganz in Schwarz. Das Gesicht fast eingefroren, den Kopf nach unten gerichtet sass sie da, an einem langen Tisch im Kreml, so lang wie Tische offenbar mittlerweile sein müssen, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin an ihnen ebenfalls Platz nimmt. Vier Tage waren seit dessen Ausrufung der «militärischen Spezialoperation» vergangen. Vier Tage Krieg in der Ukraine.
Mittlerweile sind es mehr als drei Monate. Elvira Nabiullina, die Zentralbankchefin, äusserte kein Wort der Kritik, niemand aus der russischen Führung hat bis heute ein Wort der Kritik an der grausam einsamen Entscheidung ihres Präsidenten geäussert, die Ukraine zu zerstören und Russland in den Abgrund zu reissen.
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Nabiullinas Auftritt war dennoch ein Statement. Ein düsteres Bild der Lage. Die russische Wirtschaft würde zu Grabe getragen, das wusste jemand wie sie genau. Sie wusste auch: Sie würde dieser Leiche zum Leben verhelfen müssen. Ohne Wenn und Aber. Ohne eine Kündigung einreichen zu können; zweimal soll sie es versucht haben, vergebens.
Stattdessen der Ruf für weitere fünf Jahre auf dem Posten. Ein nett verpackter Befehl aus dem Präsidentenzimmer. Sie würde dem autoritären Staat, den sie selbst miterschaffen hatte, den sie Jahre am Laufen gehalten hatte, nicht entwinden können. Auch dafür stand das Schwarz ihrer Kleider.
Nabiullina, deren Broschen fast schon legendär geworden waren, weil sie durch sie die Lage der russischen Wirtschaft mehr verdeutlichte als es ihre Worte taten, hatte an dem Tag keine Brosche am Revers. Die Zeit der Broschen ist seit Februar vorbei. Keine weissen Kraniche mehr an ihrem Jackett, keine roten Stehaufmännchen, keine Tauben, Jaguare, Regenwolken.
Nabiullina gibt nun broschenlos die Feuerwehr in Russland. Und sie tut das durchaus ausgezeichnet. Wie sie es immer tat. Seit ihrer Kindheit war sie das Mädchen mit den Bestnoten.
Die westlichen Sanktionen im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine trafen auch die Notenbank. Nabiullina griff zum Äussersten. Sie erhöhte den Leitzins um zehn Prozentpunkte, führte Kapitalverkehrskontrollen ein und verbot das Abheben von grossen Beträgen, um den Abfluss von Bargeld und ausländischen Devisen zu stoppen. Das stützte den Rubel.
Ein Erfolg. Mittlerweile ist der Rubelkurs so stark, wie er es seit 2015 nicht mehr war.
Der russische Staat verpflichtet russische Firmen, 50 Prozent ihrer ausländischen Devisenerlöse sofort in Rubel zu wechseln, der Zwangsumtausch stützt den Kurs massiv. Die Preise sind dadurch künstlich, im Rubelkurs spiegeln sich Angebot und Nachfrage nur noch eingeschränkt wider, der reale Kurs ist unbekannt.
Den Kollaps des russischen Finanzsystems und der Währung hat die Notenbankchefin verhindert, nun fordert sie eine «strukturelle Transformation der Wirtschaft», wie sie bereits vor einigen Wochen im russischen Parlament sagte. Die Reserven seien nicht für ewig, im zweiten, spätestens dritten Quartal des Jahres, so die Finanzfachfrau, träten «schwierige Zeiten» ein. Die Preise würden merklich steigen, die Inflation ebenfalls.
Diese Worte hielten Beobachter im Land sogleich für die «Ankündigung einer Katastrophe».
Nabiullina kommt nicht aus Putins Bekanntenkreis in Sankt Petersburg, wie es viele tun, die heute an den Schaltstellen der Macht sitzen. Sie wuchs in der Industriestadt Ufa auf, der Hauptstadt Baschkortostans, knapp 1500 Kilometer östlich von der russischen Hauptstadt entfernt.
Ein Drittel der Bewohner der Republik sind Tataren, auch Nabiullinas Familie ist tatarisch, der Vater Lastwagenfahrer, die Mutter Fabrikarbeiterin. Ein Leben, wie es viele sowjetische Familien führten.
Die Schule schloss die heute 58-Jährige mit einer Goldmedaille ab und bekam die Chance, in Moskau Wirtschaft zu studieren. Auch hier: ein rotes Diplom für die Höchstleistungen. Sie trat in die Kommunistische Partei ein, fing an, zu promovieren. Ohne die Partei-Mitgliedschaft hätte sie kaum Karriere machen können.
In den 1990ern, als die Sowjetunion zerbrach, und auch ihr ehemaliger Professor sich den Reformern um den damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin anschloss, brach sie die Doktorarbeit ab und trat in den Staatsdienst ein. Der Aufstieg kam schnell – und er ging weiter, als Putin in den Kreml einzog. Dieser machte sie 2007 zur Wirtschaftsministerin und 2013 zur Notenbankchefin.
Hier glänzte sie sogleich, als westliche Sanktionen nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 das Land lähmten. Auch die globale Bankengemeinschaft feierte sie. Für ihre robuste Position zur Inflation, für das Schwankenlassen des Rubels, für den Entzug von Banklizenzen von fast einem Drittel der russischen Banken, die als schwach galten.
Fachpublikationen wählten sie zur «Notenbankerin des Jahres», Christine Lagarde, die damalige Chefin des internationalen Währungsfonds, nannte sie bewundernd Dirigentin.
Nabiullina baute Russlands Devisenreserven auf und setzte das Volk mit Sparmassnahmen unter Druck. Vor allem stärkt sie, die als liberale Technokratin gestartet ist, Putin finanziell den Rücken.
Das muss ja schrecklich sein, wenn man für einen Dreckskerl arbeiten muss. Und je länger man dies tut, desto mehr wird ein Teil des ‚Drecks‘ auch an einem selbst kleben bleiben.