Pünktlich zum dritten Jahrestag des EU-Austritts erhielt das Vereinigte Königreich dicke Post vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Dessen Konjunkturprognose für 2023 fällt für die grossen Industrieländer besser aus, als vor Monaten befürchtet. Selbst Deutschland, das stark von russischem Gas abhängig war, kommt mit einem blauen Auge davon.
Einzig die britische Wirtschaft wird gemäss dem IWF dieses Jahr nicht wachsen, sondern um 0,6 Prozent schrumpfen. Das Land bildet damit das Schlusslicht in der am Dienstag veröffentlichten IWF-Auslegeordnung und schneidet sogar schlechter ab als das wegen seines Angriffskriegs auf die Ukraine mit weitreichenden Sanktionen belegte Russland.
Finanzminister Jeremy Hunt spielte die Prognose auf dem Sender Sky News herunter. Die IWF-Zahlen zeigten, dass Grossbritannien nicht immun sei gegenüber dem Druck, dem fast alle entwickelten Volkswirtschaften ausgesetzt seien. Er verwies auf langfristige Prognosen, wonach Grossbritannien stärker wachsen soll als Deutschland und Japan.
Für die konservative Regierung aber sind die IWF-Aussichten wenig schmeichelhaft. Das schwache Wachstum sei vor allem auf den Mangel an Arbeitskräften zurückzuführen, sagte Paul Johnson, der Direktor des Institute for Fiscal Studies, der BBC am Dienstag. Auslöser sei unter anderem der Brexit gewesen, der Einwanderung aus der EU erheblich erschwerte.
Der EU-Austritt habe aber auch andere Herausforderungen mit sich gebracht, die das Wirtschaftswachstum hemmen. Unter anderem leide die Konjunktur unter der politischen Instabilität in den vergangenen Jahren. Grossbritannien hat als einer der wenigen grossen Wirtschaftsräume das Vor-Corona-Niveau beim Bruttoinlandprodukt noch nicht erreicht.
Am 31. Januar 2020 um 23 Uhr (Mitternacht in Brüssel) war das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausgetreten, dreieinhalb Jahre nach dem Referendum über den Brexit. Am Ende des gleichen Jahres war es auch vorbei mit der Teilhabe an Binnenmarkt und Zollunion. An ihre Stelle trat ein hastig ausgehandeltes Freihandelsabkommen.
Nun zeigt sich immer mehr, dass es kein Ersatz ist für die Integration in den europäischen Markt. Die Wirtschaft klagt, der Wegfall der Personenfreizügigkeit habe die Rekrutierung von Arbeitskräften erschwert. Überall fehlt Personal, nicht zuletzt beim Nationalen Gesundheitsdienst (NHS), in dem im Notfalldienst ein veritabler Notstand herrscht.
Gleichzeitig müssen sich die britischen Unternehmen mit bürokratischen Formalitäten im Handel mit der EU herumschlagen. Die «goldenen Zeiten», die die Tory-Regierung nach dem Brexit heraufbeschworen hatte, lassen auf sich warten. Zwar hat die Regierung zahlreiche Handelsabkommen abgeschlossen, doch sie «kopieren» nur bestehende EU-Verträge.
Wirklich neu sind Abkommen mit Australien und Neuseeland, zum Ärger der britischen Farmer. Sie befürchten Billigkonkurrenz aus den beiden Agrarländern. Die hohe Inflation ist zwar rückläufig, aber sie war im Dezember immer noch zweistellig. Die Bank of England dürfte deshalb am Donnerstag den Leitzins von 3,5 auf 4 Prozent anheben.
Dies wäre ein weiterer Dämpfer für die britische Wirtschaft. Und die Pläne der Regierung, das Königreich als Ausgleich für die «Brexit-Delle» zu einem führenden Standort im Bereich der Zukunftstechnologien zu machen. Gar nicht in dieses Bild passt der kürzliche Konkurs der Firma Britishvolt, die in Nordengland eine «Gigafactory» für Autobatterien bauen wollte.
Die «normale» Bevölkerung schlägt sich derweil mit eigenen Sorgen herum. Zur Inflation kommen teurere Hypotheken als Folge der Zinserhöhungen und die explodierenden Energiekosten hinzu. Das Phänomen der «Energiearmut» hat, wie von Experten befürchtet, den unteren Mittelstand erfasst. Rund ein Viertel aller britischen Haushalte ist betroffen.
Das bedeutet, dass rund sieben Millionen Haushalte nicht genug Geld haben, um ihre oft miserabel isolierten Behausungen anständig zu heizen. Es erstaunt nicht, dass «warm banks» – öffentliche Räume, in denen man sich aufwärmen kann – und «food banks» – wo man kostenlose Lebensmittel erhält – in diesem Winter einen Grossandrang erleben.
Der Brexit ist nicht allein schuld an der Misere. Dazu beigetragen hat auch die libertäre Harakiri-Wirtschaftspolitik von Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss. Dennoch sind die Illusionen, die mit dem EU-Austritt geschürt wurden, weitgehend verflogen. In einer aktuellen Umfrage finden nur neun Prozent, der Brexit wirke sich positiv auf das Land aus.
Die Brexit-Hardliner um den früheren Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg ficht das nicht an. Sie wollen sämtliche EU-Regulierungen, die in nationales Recht übernommen wurden, endgültig abschaffen. Welchen Nutzen das für die Wirtschaft haben soll, können sie nicht erklären. Offenbar geht es ihnen darum, beim Brexit «verbrannte Erde» zu hinterlassen.
Die sogenannten Brexiteers machen Premierminister Rishi Sunak ohnehin das Leben schwer. Wegen seiner pragmatischen Art verdächtigen sie ihn, ein verkappter «Remainer» zu sein – obwohl er 2016 im Gegensatz etwa zu Liz Truss für den EU-Austritt gestimmt hatte. Seit der Abstimmung ist Sunak bereits der fünfte Tory-Premier.
Er ist seit 100 Tagen im Amt und damit schon mehr als doppelt so lange wie Liz Truss. Selbst Kritiker attestieren ihm und Schatzkanzler Jeremy Hunt, die Lage beruhigt zu haben. Als starke Leaderfigur wird der erste indischstämmige Regierungschef der britischen Geschichte dennoch nicht wahrgenommen, denn auch ihn plagen Skandale.
Am Sonntag musste er Tory-Generalsekretär Nadhim Zahawi feuern. Der gebürtige Iraker, einer der reichsten Abgeordneten im Parlament, hatte «vergessen», eine Millionenbusse wegen Steuerhinterziehung zu deklarieren. Gegen Vizepremierminister Dominic Raab läuft eine Untersuchung wegen Mobbings von Mitarbeitenden.
Das schadet Rishi Sunaks Ansehen genauso wie seine harte Haltung im Umgang mit streikenden Angestellten des öffentlichen Diensts. Beobachter geben ihm eine Gnadenfrist bis zu den Kommunalwahlen im Mai, bei denen den Tories eine verheerende Niederlage droht. Im Hintergrund scharrt Vorvorgänger Boris Johnson bereits kräftig mit den Hufen.
Erst vor einem halben Jahr hatte die Partei ihn quasi vom Hof gejagt. Doch er hat noch immer viele Fans, die überzeugt sind, dass nur Boris ein Debakel bei den Wahlen 2024 verhindern kann. In der «Politico»-Querschnittsumfrage hat die oppositionelle Labour-Partei derzeit einen Vorsprung von 23 Prozentpunkten, was ihr einen Erdrutschsieg bescheren würde.
Beim Thema Brexit gibt sich auch Labour-Chef Keir Starmer bedeckt, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Eine Rückkehr in die EU oder den Binnenmarkt schliesst er aus, doch seine Partei verspricht eine Normalisierung der Beziehungen und eine engere Zusammenarbeit. Verglichen mit dem heutigen Brexit-Debakel wäre das zumindest ein Fortschritt.