Das Brexit-Chaos lässt die EU-Austrittsgelüste erlahmen
Die britische Wirtschaft ist im November überraschend gewachsen, um 0,2 Prozent. Allzu viel darf sich das Königreich jedoch nicht darauf einbilden. Verantwortlich für das Wachstum ist die Fussball-WM, die gemäss der BBC Konsum und Werbung befeuert habe. Im Dreimonatsvergleich aber war die gesamte Wirtschaftsleistung sogar rückläufig.
Das Bruttoinlandsprodukt in Grossbritannien ist noch immer unter Vor-Corona-Niveau. Das liegt an der Inflation, der Streikwelle – und am Brexit, dem 2016 beschlossenen und Ende 2020 definitiv vollzogenen Austritt aus der Europäischen Union. Er hat keine goldenen Zeiten beschert, sondern die Wirtschaft nach Ansicht von Ökonomen dauerhaft geschädigt.
Begleitet wurde der chaotische Austrittsprozess von politischen Turbulenzen. Mit Rishi Sunak ist bereits der fünfte konservative Premierminister seit der Abstimmung im Juni 2016 im Amt. Daran ist nicht nur der Brexit schuld, dennoch hat das Tohuwabohu im Königreich die Austrittsgelüste in den 27 verbleibenden EU-Mitgliedsländern spürbar gedämpft.
Le Pens Versprechen
Nach dem Referendum wurde ein Nachahmer-Effekt in der EU befürchtet. 2017 versprach Marine Le Pen eine Abstimmung über den Frexit für den Fall, dass sie die französische Präsidentschaftswahl gewinnen sollte. Spekuliert wurde auch über einen Grexit, einen Italexit oder Polexit. Mehrheitsfähig waren diese Szenarien nie.
Heute sind sie es weniger als je zuvor. In sämtlichen EU-Mitgliedsländern ist die Zahl der Austrittsbefürworter teilweise stark rückläufig. Das zeigt die jüngste Ausgabe des European Social Survey (ESS) der Londoner City-Universität. Die Erhebung wird seit 2001 alle zwei Jahre in 30 europäischen Ländern (darunter auch die Schweiz) durchgeführt.
Keine Lust auf Exit
Der deutlichste Rückgang wurde in Finnland verzeichnet, wo sich der Anteil der Befürworter eines EU-Austritts seit der Erhebung von 2016/17 fast halbiert hat, von knapp 29 auf etwas über 15 Prozent. Selbst in Italien, wo viele die EU und vor allem den Euro zum Sündenbock für die notorische Wirtschaftsschwäche machen, sank er von 30 auf 20 Prozent.
Latest European Social Survey confirms post-Brexit trends in public opinion across Europe: there has seen a significant decrease in support across member states for the idea of leaving the EU. In some countries, one pollster has called it a “collapse.” pic.twitter.com/toR9wGMKsU
— Lewis Goodall (@lewis_goodall) January 12, 2023
Besonders tief ist der Anteil in Polen und Ungarn, obwohl oder eher weil deren rechtsnationale Regierungen gerne gegen Brüssel polemisieren. Die grösste Zustimmung zum Austritt findet man gemäss der ESS-Studie in der Tschechischen Republik. Doch selbst dort würden in einer hypothetischen Abstimmung 71 Prozent für den Verbleib in der EU votieren.
Griechen hadern mit Brüssel
Für die zunehmende Akzeptanz der EU-Mitgliedschaft machen Experten gemäss dem «Guardian» neben dem Brexit vor allem zwei Gründe verantwortlich: die Coronapandemie und den Ukraine-Krieg. Die gemeinsame Impfstoff-Beschaffung sorgte dafür, dass kein Land benachteiligt wurde. Und der russische Angriffskrieg stärkte die Wertegemeinschaft.
Die ESS-Studie korreliert mit einer im letzten Oktober veröffentlichten Erhebung des amerikanischen Pew Research Center in 19 Ländern (davon 10 aus der EU). Sie zeigt ebenfalls, dass die EU so vorteilhaft gesehen wird wie nie zuvor. Nur in Griechenland ist die Zahl der positiven und negativen Stimmen mit 50:49 Prozent fast gleich hoch.
Rechtspopulisten sind verstummt
Das harte Spardiktat während der Schuldenkrise scheinen die Griechen nicht verdaut zu haben. In einem Grexit-Referendum würden laut der ESS-Studie dennoch 87 Prozent für den Verbleib stimmen. Das überrascht nur auf den ersten Blick, denn auf die Vorzüge der Mitgliedschaft und des Euro will das vom Tourismus abhängige Land nicht verzichten.
Die Europäische Union mag für wenige Europäer eine Herzenssache sein, doch ihre Vorzüge werden zunehmend geschätzt, vor allem wenn man die Erfahrungen der Briten nach dem Austritt betrachtet. Das haben selbst die Rechtspopulisten in vielen Ländern kapiert. Ihre Rufe nach einem Austritt sind leise geworden oder ganz verstummt.
Briten wollen zurück
Marine Le Pen spricht nicht mehr vom Frexit, auch wenn Beobachter zweifeln, dass sie dieses Ziel aufgegeben hat. Besonders spektakulär ist der Wandel in Italien. Im letztjährigen Wahlkampf hatte die Postfaschistin Giorgia Meloni noch heftig auf Brüssel und Länder wie Deutschland und Frankreich eingeprügelt. Als Ministerpräsidentin tönt sie nun ganz anders.
Ein Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag in Rom verlief in herzlicher Atmosphäre. Das mag auch daran liegen, dass Italien wie kein anderes EU-Land vom Corona-Wiederaufbaufonds profitiert. Doch selbst in Grossbritannien würden laut neuesten Umfragen mehr als 50 Prozent den Brexit am liebsten rückgängig machen.
