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Grossbritannien – oder wie man ein Land nicht regieren sollte

British Prime Minister Liz Truss and Chancellor of the Exchequer Kwasi Kwarteng visit Berkeley Modular, in Northfleet, Kent, Britain, Friday, Sept. 23, 2022. (Dylan Martinez/Pool Photo via AP)
Haben nichts mehr zu lachen: Premierministerin Liz Truss und ihr Finanzminister Kwasi Kwarteng.Bild: keystone
Analyse

Grossbritannien – oder wie man ein Land nicht regieren sollte

Die britische Premierministerin Liz Truss hat ihr Land innert Wochen an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs geführt.
01.10.2022, 13:23
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Ja, ich weiss, Schadenfreude ist eine moralisch verwerfliche Gefühlsregung, aber wer kann sich dieses Gefühls erwehren, wenn er beobachtet, was derzeit auf der britischen Insel abgeht? Die Konservativen, die unter dem Hochstapler Boris Johnson vor rund drei Jahren einen Erdrutschsieg eingefahren haben, die versprochen haben, dank des Brexits die ehemalige Weltmacht zu neuer Blüte zu führen und Europa den Mittelfinger gezeigt haben; diese Konservativen liegen gemäss jüngsten Umfragen 33 Prozentpunkte hinter der Labour Partei; und Premierministerin Liz Truss, erst seit ein paar Wochen im Amt, muss bereits befürchten, wieder aus der Downing Street 10 verjagt zu werden. Ein bisschen Schadenfreude ist da angesagt, oder nicht?

Die Schadenfreude ist dabei keineswegs auf die Linke und Euroturbos beschränkt. «Wie man ein Land nicht regieren sollte», titelt der «Economist» in seiner jüngsten Ausgabe und wirft Premierministerin Truss und ihrem Finanzminister Kwasi Kwarteng «fiskalische Rücksichtslosigkeit» und «offensichtliche Inkompetenz» vor. Spötter vergleichen London bereits mit Caracas, der Hauptstadt von Venezuela.

Das Titelbild des «Economist» bringt es auf den Punkt.
Das Titelbild des «Economist» bringt es auf den Punkt.screenshot economist

Mehr oder weniger offene Schadenfreude herrscht natürlich auch in Brüssel. Immer wieder haben Ökonomen auf die negativen wirtschaftlichen Folgen des Brexits hingewiesen und gewarnt, die Versprechungen von Johnson & Co, das Vereinigte Königreich in ein grosses Singapur zu verwandeln, seien Luftschlösser. In London hat man diese Warnungen in den Wind geschlagen und sich verhalten wie der sprichwörtliche Geisterfahrer, der überzeugt ist, alle anderen würden auf der Autobahn in die falsche Richtung fahren.

Vitor Constancio, ein ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied der Europäischen Zentralbank, bekennt denn auch in der «Financial Times»: «Ja, es gibt Schadenfreude – aber kein Vergnügen. Das Gefühl von ‹Wir haben euch ja gewarnt› ist weit verbreitet in Europa.»

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Sie haben gut lachen: Oppositionsführer Keir Starmer und seine Vize Angela Rayner.Bild: keystone

Mit Worten, die er sonst nur gegenüber Entwicklungsländern gebraucht, hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) die britische Regierung abgekanzelt. Der IWF werde «die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen genau verfolgen», heisst es in einer Mitteilung an die Adresse der britischen Regierung. Gleichzeitig verurteilt er das 45-Milliarden-Pfund-Steuersenkungsprogramm, das Finanzminister Kwarteng vor einer Woche vorgestellt hat. Es würde «die hohen Einkommen begünstigen» und «wahrscheinlich die Ungleichheit noch verstärken», schimpft der IWF. Labour-Chef Keir Starmer hätte es nicht besser formulieren können.

Besonders schmerzlich für die Tories ist die Tatsache, dass sie in den Umfragen nicht nur generell abstürzen, sondern dass ihnen nun auch die Wirtschaftskompetenz abgesprochen wird. Die jüngste Umfrage von YouGov zeigt, dass 44 Prozent der Briten in Wirtschaftsfragen Labour mehr vertrauen als den Konservativen. Bloss 12 Prozent sprechen den Tories ihr Vertrauen aus.

Selbst eine berechtigte Portion Schadenfreude kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das finanzielle Chaos auf der Insel eine Gefahr für die Weltwirtschaft darstellt. Erinnert ihr euch noch an die CDOs (Collateralized Debt Obligation)? Mit diesen «Massenvernichtungswaffen der Finanzindustrie» (Warren Buffett) wurde 2008 beinahe das internationale Finanzsystem zum Absturz gebracht.

epa10211411 People look over sales options at a real estate agent in London, Britain, 28 September 2022. UK Banks have begun withdrawing mortgage products for customers following British Chancellor Kw ...
Zwei Frauen betrachten die Immobilien-Inserate in London.Bild: keystone

Nun verbreitet eine neue Abkürzung Angst und Schrecken: LDI. Sie steht für «Liability Driven Investment» und ist ebenfalls ein komplexes Finanzinstrument, das vor allem von Pensionskassen eingesetzt wird. Ohne in die grusligen Details einsteigen zu wollen, versuchen sie damit, heftige Zinsausschläge abzufedern und gleichzeitig auch in einem Tiefzinsumfeld ihren Verpflichtungen gegenüber den Rentnern nachzukommen.

Britische Pensionskassen haben offenbar im grossen Stil LDIs eingesetzt. Weil das Mega-Steuersenkungsprogramm des Finanzministers die Zinsen der Staatsanleihen in die Höhe schiessen liess, kamen sie in Schwierigkeiten. Ihre Positionen waren nicht mehr gedeckt, und sie mussten in einen fallenden Markt verkaufen. «Eine Teufelsspirale beginnt sich zu drehen und die Pensionsfonds müssen verkaufen und verkaufen», erläutert dazu der Berater Calum MacKenzie im «Wall Street Journal». «Es ist der Beginn einer Todesspirale.»

Das Elend der Pensionskasse hat auch die Bank of England (BoE) in die Zwickmühle gebracht. Um die Todesspirale der Pensionskassen zu stoppen, musste sie ihr Quantitative-Easing-Programm neu starten und versprechen, für 65 Milliarden Pfund Staatsanleihen aufzukaufen. Das widerspricht diametral der Absicht der Notenbank, mit höheren Zinsen die Inflation in den Griff zu bekommen, eine Inflation, die auf der Insel bereits im zweistelligen Prozentbereich angelangt ist.

Wie einst Ronald Reagan wollen Premierministerin Truss und ihr Finanzminister mit einem Steuergeschenk an Unternehmen und Wohlhabende die Wirtschaft ankurbeln. Dabei haben sie jedoch zwei kleine Details übersehen: Grossbritanniens Volkswirtschaft ist nicht vergleichbar mit derjenigen der USA. Der Dollar hat Reagans Rosskur überstanden, das Pfund nicht. Es ist abgestürzt, und das schwache Pfund heizt jetzt die Inflation noch mehr an.

Die Rahmenbedingungen der Achtzigerjahre waren zudem fundamental anders. Reagan konnte damals noch Junge und Frauen in den Arbeitsprozess locken und so für mehr Wachstum sorgen. Heute leidet die Gesellschaft unter Überalterung. «Deshalb sind die Bemühungen von Mrs Truss, Reagan nachzuahmen, zum Scheitern verurteilt», stellt der «Economist» fest.

Am Sonntag treffen sich die Konservativen zu ihrem Parteitag in Birmingham. Für sie ist der Crash in den Meinungsumfragen ein Schock. Tim Bale, Politologieprofessor an der Queen Mary University in London, formuliert es wie folgt: «Sie fühlen sich wie jemand, der in der Hochzeitnacht realisiert, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hat.»

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63 Kommentare
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Auster N
01.10.2022 13:35registriert Januar 2022
Wieder einmal ein klarer Beweis, dass Steuergeschenke an das eine Prozent Superreiche nicht hilft sondern zum totalen Schiffbruch führt. Kann man diesen Artikel in Bern auch lesen, wenn nicht, Faxt ihn da hin.
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Giotsche
01.10.2022 13:32registriert Dezember 2021
Die Einstellung alles alleine besser können ist schädlich. Man sollte zusammen arbeiten. Dasselbe in der Politik
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Statler
01.10.2022 16:34registriert März 2014
Ich hab' irgendwo gelesen, dass Eisenhower mal gesagt haben soll, dass 90% Steuern für die Wirtschaft das Beste sei, weil die dann nämlich investieren und Leute anstellen, weil sie selbige Investitionen und Löhne von den Steuern absetzen können.
Niedrige Steuern haben - entgegen der Mär vom Trickle down Effekt - die gegenteilige Wirkung. Es wird so viel wie möglich gespart, um den Aktionären hohe Dividenen zu bescheren.

Ob Ike das jemals gesagt hat, sei dahingestellt - die Logik dahinter ergibt jedenfalls Sinn.
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