In den letzten Wochen hat es in China eine Reihe von spektakulären Korruptionsprozessen gegen hochrangige Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) gegeben. Das ist kein Zufall. Am 16. Oktober beginnt der nationale Parteitag der KPC. Dabei will sich Chinas Präsident Xi Jinping eine weitere Amtszeit sichern und duldet deshalb keine Abweichler in den eigenen Reihen.
Korruption ist tatsächlich ein Problem in China. Doch der Korruptionsvorwurf kann – ähnlich wie im Mittelalter der Verdacht auf Hexerei – willkürlich gegen alle und jeden verwendet werden. Das scheint derzeit der Fall zu sein. «Das ist ganz offensichtliche eine Warnung, sich gegen das Diktat von Xi Jinping zu stellen», erklärt Victor Shih, Chinaspezialist an der University of California, in der «Financial Times».
Nach den Katastrophen, die seinerzeit der Vorsitzende Mao China bescherte, hat sein Nachfolger Deng Xiaoping wohlweislich die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Perioden von je fünf Jahren beschränkt. Xis Amtszeit würde daher Ende dieses Jahres ablaufen, doch er denkt nicht daran, zurückzutreten. Stattdessen folgt er dem Beispiel von Wladimir Putin und will sich lebenslang inthronisieren lassen.
Diktatoren werden gefährlicher, je länger sie im Amt bleiben. Sie umgeben sich mit Ja-Sagern, schwelgen in Allmachtsphantasien und verlieren den Blick auf die Realität. Putins unsäglicher Krieg gegen die Ukraine ist ein schlagendes Beispiel dafür. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Xi nicht das gleiche Schicksal blüht. «Es ist nur realistisch, davon auszugehen, dass die nächsten zehn Jahre unter Xi schlimmer sein werden als die vorhergehenden», konstatiert Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times».
Dabei ist schon Xis erste Amtszeit geprägt von einer zunehmenden Verschlechterung der gesellschaftlichen Verhältnisse in China. Sein Vorgänger Hu Jintao galt als relativ weich, zu weich für die Hardliner innerhalb der KPC. Sie wollten einen starken Mann an der Spitze, und mit Xi haben sie auch einen erhalten.
Xi hat denn auch von Beginn an alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Macht der Partei zu stärken. Auf keinen Fall sollte die KPC das gleiche Schicksal ereilen wie die KPdSU, und nichts fürchtet und hasst Xi mehr als den bürgerlichen Liberalismus. Deshalb hält er sich strikt an die Lehren von Lenin, die besagen, dass die Partei die Avantgarde der Gesellschaft und ihre Macht allumfassend sei.
Um den Marxismus leninistischer Prägung den Chinesen schmackhaft zu machen, reichert ihn Xi mit einer kräftigen Portion Nationalismus an. Kevin Rudd, ein ehemaliger australischer Premierminister und führender China-Kenner, schreibt in seinem Buch «The Avoidable War»: «Ich bezeichne Xis Weltanschauung als ‹marxistischer Nationalismus›, weil sein Appell an die Partei ideologisch und sein Appell an die Menschen nationalistisch ist.»
China hat in den letzten dreissig Jahren das wohl grösste Wirtschaftswunder der Menschheitsgeschichte geschaffen. Das Land ist aus dem Zustand eines Steinzeit-Kommunismus zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Nun mehren sich jedoch die Zeichen, dass dieses Wunder ins Stocken gerät und es stellt sich die Frage, ob Xis marxistischer Nationalismus in der Lage sein wird, die sich auftürmenden Probleme zu bewältigen.
Problem Nummer eins ist die demografische Entwicklung. Chinas Bevölkerung wird bereits in diesem Jahr schrumpfen. Schuld daran ist die Ein-Kind-Politik, welche die Partei lange den Menschen oktroyierte, und die Tatsache, dass die chinesischen Frauen auch nach Aufhebung dieser Politik keine Lust haben, mehr Kinder auf die Welt zu bringen. China hat nach wie vor eine der tiefsten Geburtenraten auf der Welt. «Ein Kind ist genug», erklärt eine typische Mutter gegenüber der «Financial Times». «Wir haben weder das Geld noch die Energie für ein zweites.»
Damit spielt sie auf das zweite grosse Problem Chinas an. Die Chinesen haben zwar ein Wirtschaftswunder geschafft, doch sie sind nicht in der Lage, die notwendigen Reformen zu machen, die dieses Wunder nachhaltig machen würden. Schuld daran ist ein weit aufgeblasener Bausektor. In China liegt dieser Anteil immer noch zwischen 20 und 30 Prozentpunkten des Bruttoinlandprodukts (BIP). Zum Vergleich: In der Schweiz beträgt er rund 5 BIP-Prozentpunkte.
Um nicht in die sogenannte «Falle der mittleren Einkommen» zu plumpsen, müsste China aufhören, in Häuser zu investieren, die keiner bewohnen will, und Strassen und Eisenbahnen zu bauen, die niemand braucht, zumal dies weitgehend auf Kredit geschieht und so die Staatsschulden aufbläst. Stattdessen müsste der private Konsum gefördert und die Volkswirtschaft so nachhaltiger gestaltet werden.
Dieses Problem ist den Chinesen bestens bekannt. Seit Jahrzehnten sprechen sie davon, doch sie sind offenbar nicht in der Lage, es auch anzupacken. Warum das so ist, erklärt Michael Pettis, ein bekannter Ökonom an der Peking University», in «Foreign Affairs» wie folgt: «Der Immobilienboom und die Investitionen in die Infrastruktur haben enorm viel zu Chinas Wirtschaftsentwicklung beigetragen und sind deshalb für die lokalen Eliten politisch bedeutsam geworden.»
Die damit entstandenen Machtstrukturen und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu zerschlagen, ist bisher nicht gelungen. Stattdessen sparen die Chinesen nach wie vor viel zu viel und verhindern so eine dringend notwendige Restrukturierung der Wirtschaft. Dazu kommt, dass sie nach wie vor ungenügend gegen Krankheit und Alter versichert und daher auf das private Sparen angewiesen sind.
Steven Roach, Ökonomieprofessor an der Yale University, macht die KPC für die Misere mitverantwortlich. Um eine Konsumgesellschaft zu errichten, «braucht es eine ehrgeizige Einstellung, die nach sozialem Aufstieg und Freiheit strebt. Für eine Nation, die auf Kontrolle fokussiert ist, ist das unerwünscht.»
Tatsächlich hat sich der «Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken» unter Xi wieder deutlich in Richtung Staatsdirigismus entwickelt. Erfolgreiche Unternehmer wie Jack Ma wurden zurückgebunden, ein Crash der Tech-Aktien wurde in Kauf genommen. Wen Jiabao, Chinas ehemaliger Premierminister, hat schon vor Jahren erklärt, Chinas Wirtschaftsmodell sei «instabil, nicht balanciert, unkoordiniert und nicht nachhaltig».
Xi dürfte sich davon nicht beeindrucken lassen. Sein Verhalten in der Covidkrise zeigt, dass er stur an einer Lockdown-Politik festhält, obwohl diese dank des medizinischen Fortschritts nicht mehr nötig wäre und der Wirtschaft grossen Schaden zufügt.
Sein Festhalten am Leninismus verspricht für die Zukunft nichts Gutes. «Im besten Fall ist es für China eine Sackgasse», schreibt Martin Wolf. «Sollte Xi noch viel länger im Amt bleiben, dann könnte daraus im schlimmsten Fall etwas noch weit Gefährlicheres entstehen, für China selbst und für den Rest der Welt.»
Ok, nicht wir haben es in der Hand, sondern "die Wirtschaft". Aber die will halt (nur) Geld. Konsequenzen egal...
Dasselbe kann man über CEOs sagen…