In Unternehmen sind Finanzchefs in der Regel die Nummer zwei nach dem CEO. In Staaten ziehen die Finanzminister hinter dem Rücken der Staatschefs die Strippen. Oft ist die Nummer zwei fast so wichtig wie die Person an der Spitze; und nirgends ist sie wichtiger als in Deutschland.
Wolfgang Schäuble war während der Eurokrise der mächtigste Mann in Europa. Seine Duelle mit dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis sind legendär. Es war Schäuble, der letztlich die harte Linie gegenüber den verschuldeten Mittelmeerstaaten durchgesetzt und Europa eine Austeritätspolitik aufs Auge gedrückt hat.
Unter seinem Nachfolger Olaf Scholz hat sich die Lage merklich entspannt. «Lange überfällige Investitionen der öffentlichen Hand stiegen endlich spürbar an, vor allem aber war Scholz im Jahr 2020 bereit, die Kassen zu öffnen und durch ein umfassendes staatliches Hilfsprogramm die Folgen des Corona-Schocks für Wirtschaft und Gesellschaft abzumildern», stellten Joseph Stiglitz und Adam Tooze kürzlich in einem Gastbeitrag in der «Zeit» fest. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler lehren an der renommierten Columbia University in New York.
Damit sind wir auch schon beim Kern angelangt, bei einem Streit, der sich um die Besetzung des Postens des nächsten deutschen Finanzministers dreht. Die Ampelkoalition zwischen Sozialdemokraten, Grünen und FDP scheint beschlossene Sache zu sein. Olaf Scholz als Kanzler ist unbestritten. Die Frage der Nummer zwei hingegen ist noch nicht entschieden, und sie ist alles andere als trivial.
Darum geht es: Die Coronakrise war auch die schlimmste Wirtschaftskrise seit Menschengedenken. «Noch nie in der Geschichte ist die wirtschaftliche Tätigkeit so rasch und so geschlossen rund um die Welt eingebrochen», stellt Adam Tooze in seinem jüngsten Buch «Shockdown» fest. «Der Einbruch war schneller und steiler als selbst während der Grossen Depression der Dreissigerjahre.»
Dieser Schock hat auch das Selbstverständnis der deutschen Ökonomen erschüttert. Schuldenbremse, schwarze Null – das Heiligste des Heiligen der Ordoliberalen wurde über Nacht über Bord geworfen. Via eine Hintertür wurden selbst Eurobonds eingeführt. Das 700-Milliarden-Aufbauprogramm in der EU wird durch die Ausgabe von gemeinsamen Anleihen finanziert.
Und siehe da: Die Welt ging nicht unter. Im Gegenteil, Deutschland und Euro kamen weit besser durch die Krise als befürchtet; und nun erholt sich die Wirtschaft rasch, auch in Europa.
All dies wäre eigentlich Anlass nicht nur zur Freude, sondern auch dazu, alte Denkmuster zu überprüfen, beispielsweise Sinn und Zweck einer Wirtschaftspolitik, deren oberstes Ziel die Vermeidung von Staatsschulden ist. Ist angesichts der drohenden Klimakatastrophe ein ökologischer Umbau der Gesellschaft nicht weit wichtiger als eine ausgeglichene Staatsrechnung?
Nein, sagt die deutsche FDP, und ihr Chef Christian Lindner versprach schon im Wahlkampf hoch und heilig, so rasch wie möglich wieder zu Schuldenbremse und schwarzer Null zurückzukehren. Um diese Versprechen auch einzulösen, beansprucht Lindner nun den Posten des Finanzministers.
Das wiederum hat die beiden Wirtschaftsprofessoren Stiglitz und Tooze auf den Plan gerufen. «Was Deutschland und Europa am allerwenigsten gebrauchen können, ist ein Finanzminister, der das Ministerium als Plattform ansieht, von der aus er die konservative Haushaltspolitik seiner Partei predigen kann», warnten sie im erwähnten «Zeit»-Artikel.
Mehr noch: Linder warfen sie vor, mit «Klischees aus den Neunzigerjahren um sich zu werfen». Als Alternative zu Lindner brachten sie Robert Habeck ins Spiel. Die Grünen seien schliesslich die zweitgrösste Partei und ihr Co-Chef habe einen überzeugenden Leistungsausweis.
Das Plädoyer von Stiglitz und Tooze endet in der dramatischen Schlussfolgerung: «Um seiner selbst willen sollte Lindner die unmögliche Aufgabe erspart werden, seine vorsintflutliche haushaltspolitische Aufgabe auf die finanzielle Situation von heute übertragen zu müssen. Diese Art Crashtest kann sich weder Deutschland noch Europa erlauben.»
Die Reaktion der Gegenseite kam rasch und heftig. Die grössten Kanonen wurden an die Front geschickt. Zuerst meldete sich Lars Feld, Wirtschaftsprofessor an der ordoliberalen Hochburg, der Universität Freiburg. Nun haben auch noch Clemens Fürst und Harold James nachgelegt. Fürst ist Präsident des ifo-Instituts in München, James Wirtschaftshistoriker an der Princeton University.
Ein Mann wie Christian Linder sei angesichts einer drohenden Ausgabeflut das Gebot der Stunde, lautet der Tenor der Konservativen. «Eine Finanzpolitik, die suggeriert, es gehe nur darum, Restriktionen für einen schuldenfinanzierten Staatsausgabenboom zu beseitigen, wird bloss dazu führen, dass knappe Kapazitäten falsch eingesetzt werden», stellen Fürst und James fest.
Der Ausgang des Streits ist noch offen. Er wird zeigen, ob sich Deutschland tatsächlich einen erneuten ordoliberalen «Crashtest» leisten kann – oder ob der Kampf gegen die Klimaerwärmung wichtiger scheint als eine schwarze Null im Staatshaushalt.
Mich stört an der ganzen Diskussion, dass überhaupt kein Bezug zu Europa und dem Euro gemacht wird. Dabei ist es offensichtlich! Solange Deutschland gleichzeitig Spar- und Exportweltmeister in der EU bleibt, wird der Druck auf die Südeuropäischen Länder nicht abnehmen. Das ist die wahre Tragik!