Neue Vorwürfe gegen Nestlé – es geht um Zucker in der Babynahrung
Der erste grosse Vorwurf erfolgte vor eineinhalb Jahren: «Nestlé macht Babys und Kleinkinder in einkommensärmeren Ländern zuckersüchtig» – so lautete der Titel einer Mitteilung der Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye. Demnach habe eine Recherche gezeigt, dass die beiden führenden Babynahrungsmarken, die Nestlé in Ländern mit tiefem oder mittlerem Einkommen als gesund und wichtig für die Entwicklung bewirbt, hohe Mengen an zugesetztem Zucker enthielten. In Westeuropa würden die gleichen Produkte derweil ohne Zuckerzusatz verkauft.
Public Eye, welche die Untersuchung zusammen mit dem International Baby Food Action Network durchführte, sprach von Heuchelei und irreführendem Marketing des Schweizer Nahrungsmittelriesen.
Der damalige Nestlé-Chef Mark Schneider wehrte sich im Interview mit CH Media, blieb dabei aber vage: «Wir haben hier nicht, wie von der Organisation behauptet, einen doppelten Standard.» Auf den Hinweis, dass zugesetzter Zucker bei Babymilchprodukten gegen die Richtlinien der Weltgesundheitsbehörde WHO verstossen würden, sagte er:
Und auf die Frage, ob Nestlé die Rezepte anpassen werde, sagte Schneider, Nestlé habe diesen Weg bei Babymilchprodukten schon seit längerem beschritten. «Wir bieten auch bei den Müsli für Babys mehr und mehr Varianten an mit weniger oder gar keinem zugefügten Zucker.»
Schneider ist inzwischen weg, die Vorwürfe nicht. Im Gegenteil: Public Eye doppelt nach. Wie die Organisation in einer Mitteilung schreibt, hätten Laboranalysen gezeigt, dass das von Nestlé in 20 afrikanischen Ländern verkaufte Cerelac-Babygetreide bis zu 7,5 Gramm Zucker pro Portion enthalte, während solche Produkte in der Schweiz und Europa ohne Zuckerzusatz verkauft würden.
Sechs Gramm Zucker pro Portion
«Die WHO warnt seit langem davor, dass eine frühe Gewöhnung an Zucker einen wichtigen Risikofaktor für Fettleibigkeit darstellt, die in Afrika stark zunimmt», schreibt Public Eye. Afrikanische Organisationen verlangten von Nestlé die Einstellung dieses inakzeptablen Doppelstandards.
Zusammen mit afrikanischen Organisationen habe Public Eye rund hundert Cerelac-Getreidebreie, die in 20 Ländern Afrikas verkauft werden, von einem Referenzlabor analysieren lassen. Das Ergebnis: «Über 90 Prozent dieser Produkte für Babys ab sechs Monaten enthalten zugesetzten Zucker – im Durchschnitt fast sechs Gramm pro Portion, also etwa eineinhalb Würfel.» Das seien 50 Prozent mehr als der in der ersten Untersuchung vor eineinhalb Jahren, die sich auf Asien und Lateinamerika konzentrierte.
In einem offenen Brief fordern im Zuge der Recherchen 19 Betroffenenorganisationen aus 13 afrikanischen Ländern den Schweizer Konzern auf, diese Geschäftspraktik zu beenden.
Reaktion in Indien ausgelöst
Public Eye weist darauf hin, dass in Indien, wo die ersten Rechercheresultate eine Welle der Empörung ausgelöst hatten, Nestlé danach 14 zuckerfreie Cerelac-Produkte eingeführt habe.
In armen Provinzen Südafrikas beispielsweise würden Generationen von Müttern seit Jahrzehnten auf Nestlé vertrauen. Dort würden viele Frauen den grössten Teil ihres mageren Einkommens für Nestlé-Babynahrung ausgeben. «Vor Ort prangern Gesundheitsfachleute irreführende Marketingpraktiken an, die Mütter immer noch dazu veranlassen, das Stillen zugunsten industrieller Produkte aufzugeben», schreibt Public Eye.
Und was sagt Nestlé zur neuen Kritik? Man sei mit dem Bericht nicht einverstanden und er enthalte fehlleitende und unbegründete Vorwürfe, schreibt ein Firmensprecher auf Anfrage von CH Media. So würden Cerealien, Milch und Früchte von Natur aus Zucker enthalten, dies sei im Bericht nicht berücksichtigt. Nestlés Herangehensweise an die Ernährung sei weltweit konsistent.
Zudem beschleunige man die Lancierung von Produkten ohne Zucker, die es bereits in 97 Prozent aller Nestlé-Märkte gebe, so auch in Afrika. Bis Ende Jahr sollen es 100 Prozent sein. Auch in Europa biete man Produktvarianten mit und ohne Zucker an. Man habe von Public Eye wiederholt um weitere Details zur Analyse gebeten, diese aber noch nicht erhalten. (aargauerzeitung.ch)
