Der Krieg in der Ukraine, der «Kornkammer Europas», hat den Welthunger weiter verschärft. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) warnte bereits früher vor einer Nahrungsmittelknappheit infolge des Kriegs. «Dies ist nicht nur eine Krise innerhalb der Ukraine. Sie wird sich auf die Versorgungsketten auswirken, insbesondere auf die Kosten für Lebensmittel», sagte David Beasley, Chef des UN-Weltprogramms.
Der Krieg habe «eine Katastrophe zusätzlich zu einer Katastrophe» verursacht. Denn: Bereits die Corona-Pandemie sowie die Auswirkungen extremer Wetterereignisse und langanhaltender bewaffneter Konflikte haben den Welthunger verschlimmert. Die jetzigen Preiserhöhungen würden den WFP laut Prognosen monatlich zwischen 60 und 75 Millionen Dollar an Betriebsaufwand kosten.
Nach positiven Entwicklungen nahm die Anzahl Menschen, die an Unterernährung leiden, wieder zu. «Die weltweite Ernährungssicherheit hat sich seit 2008 verbessert, 2015 stagnierte sie – und seit 2020 verschlechtert sie sich deutlich», bestätigte Andreas Heller vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage von watson. Schon vor der Pandemie sei man vom Kurs abgekommen, den Welthunger bis 2030 zu stoppen. So lautet das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Doch die Lage hat sich zugespitzt. Laut Beasley seien 40 Prozent der Bevölkerung auf Lebensmittel aus dem Welternährungsprogramm angewiesen. Besonders der Jemen steuere auf eine der grössten Hungersnöte der modernen Geschichte zu, warnt der WFP-Chef. Wegen Geldmangels habe man Anfang des Jahres Lebensmittelrationen für 8 Millionen Menschen im Jemen halbieren müssen. Im Zusammenhang mit dem Krieg und den steigenden Nahrungsmittelpreisen sieht die Lage noch düsterer aus.
Beasley fürchtet, dass es in Ländern, die besonders stark vom Getreide der Ukraine abhängig sind, zu sogenannten Hungerrevolten (Lebensmittelunruhen) kommen könnte.
Russland und die Ukraine verkaufen gemeinsam rund 30 Prozent des weltweiten Weizenangebots, 20 Prozent des Maisangebots und rund 80 Prozent des Sonnenblumenöls. Laut Angaben des WFP bezieht das Ernährungsprogramm rund die Hälfte des Getreides aus der Ukraine.
Darüber hinaus ist Russland einer der weltweit wichtigsten Exporteure der drei wichtigsten Düngemittelgruppen (Stickstoff, Phosphor und Kalium). Ein Kostenanstieg könne sich auch hier auf die Ernte der nächsten Saison auswirken – und so die Lebensmittelpreise langfristig in die Höhe schiessen lassen.
Wie dramatisch die Lage ist, zeigt auch die erste Analyse der Folgen des Kriegs der Welthandelsorganisation (WTO), die am Montag veröffentlich wurde: «Die Krise in der Ukraine hat eine humanitäre Krise immensen Ausmasses ausgelöst – dies ist auch ein harter Schlag für die Weltwirtschaft». Die aktuelle Krise werde die internationale Ernährungssicherheit in einer Zeit verschärfen, in der die Lebensmittelpreise ohnehin schon historisch hoch sind, warnt die Organisation mit Sitz in Genf.
Die Hauptlast der wirtschaftlichen Auswirkungen werde Europa zu spüren bekommen, da Europa der grösste Importeur von Waren sowohl aus Russland als auch der Ukraine ist, heisst es in der Analyse. Aber: «Die Kosten in Form von reduziertem Handel und Produktion werden wahrscheinlich auf der ganzen Welt durch höhere Lebensmittel- und Energiepreise und eine geringere Verfügbarkeit von exportierten Waren bemerkbar.»
Dramatisch werde es vor allem in Afrika und im Nahen Osten: «Die ärmeren Länder sind durch den Krieg besonders gefährdet, da sie im Vergleich zu den reicheren Ländern einen grösseren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben». Einige Länder in Subsahara-Afrika seien womöglich mit Preiserhöhungen von 50 bis 85 Prozent für Weizen konfrontiert.
Das Volumen des Welthandels könnte sich nach Einschätzung der Welthandelsorganisation WTO wegen des Krieges in der Ukraine in diesem Jahr gar halbieren. Der russische Krieg gegen die Ukraine könnte die globale Wirtschaft nach einer Analyse der Welthandelsorganisation (WTO) in diesem Jahr bis zu 1,3 Prozentpunkte Wachstum kosten. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2022 nach Modellrechnungen nur noch um 3,1 bis 3,7 Prozent wachsen. Langfristig bestehe das Risiko, dass die Weltwirtschaft in Blöcke zerfalle.
(mit Material der sda)