Nach dem scheusslichen Mord am Journalisten Jamal Kashoggi wurde Saudi-Arabien und vor allem sein starker Mann, Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS), von der Welt geächtet. Spitzenmanager und ranghohe Politiker blieben dem jährlich stattfindenden Wirtschaftstreffen in Riad, dem «Davos in der Wüste», fern.
Fünf Jahre später pilgern sie wieder zuhauf in die Hauptstadt von Saudi-Arabien. Auch die Teilnahmegebühr von 15’000 Dollar nehmen sie gerne in Kauf. Denn die Golfstaaten sind, wie das «Wall Street Journal» kürzlich titelte, «the World’s ATM» geworden.
MBS war noch nie ein Mann, der sein Licht unter den Scheffel gestellt hat. Er will weit mehr als ein Geldgeber sein, und er will auch mehr, als alternde Fussballstars wie Ronaldo und Neymar an den Golf locken. «Ich bin überzeugt, dass das neue Europa im Nahen Osten liegt», tönte er kürzlich. «Die nächste globale Renaissance wird im Nahen Osten stattfinden.»
Hinter diesen Worten steht mehr als Prahlerei. Die Golfstaaten schwimmen wieder einmal im Geld. Dank eines Ölpreises von rund 90 Dollar pro Fass hat Aramco, der staatliche Ölkonzern Saudi-Arabiens, im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn von 161 Milliarden Dollar eingefahren. Derweil verfügt der saudi-arabische Staatsfonds über ein Vermögen von mehr als drei Billionen Dollar.
Die Zukunftsaussichten sind ebenfalls rosig: 36 Prozent der weltweiten Erdölreserven befinden sich unter der Wüste der Golfstaaten. Derzeit stammt fast jedes zweite exportierte Fass Öl aus dieser Gegend. 22 Prozent des Erdgases wird dort gefördert. Der Export von Flüssiggas beträgt gar 30 Prozent.
Gleichzeitig entwickeln sich die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zu einem globalen Finanzzentrum. 14 Prozent aller weltweiten IPOs (Börsengänge) sind im ersten Quartal dieses Jahres in Abu Dhabi über die Bühne gegangen. Das «Wall Street Journal» weist darauf hin, dass die steigenden Zinsen die Kreditaufnahmen im Westen abgewürgt hätten. Deshalb seien die Nobelhotels in der Golfregion gefüllt mit westlichen Financiers. «Alle wollen in den Nahen Osten», zitiert das Blatt den Finanzberater Peter Jädersten. «Es ist wie einst der Goldrush in den USA.»
Der «Economist» widmet in der aktuellen Nummer dem arabischen Wirtschaftswunder gar seine Titelgeschichte. Darin zählt er die Gründe auf, die dazu geführt haben:
Zunächst einmal herrscht in der Region so etwas wie Frieden. Die beiden Erzfeinde Saudi-Arabien und Iran haben das Kriegsbeil begraben, zumindest vorläufig. Die Bürgerkriege in Syrien und Jemen sind abgeflaut. Katar hat seinen Zwist mit seinen Nachbarn bereinigt. Zwischen Israel und verschiedenen arabischen Staaten bahnen sich zarte Handelsbeziehungen an. Selbst Baschar al-Assad, der Schlächter von Syrien, muss nicht mehr draussen vor der arabischen Tür warten und ist wieder in den erlauchten Kreis von MBS & Co. zugelassen.
Auch innenpolitisch hat sich ein Sinneswandel abgespielt. Der islamische Fundamentalismus findet kaum noch Anhänger, ebenso die Demokratie westlichen Musters. Vorbild der überwiegenden Mehrheit der Menschen im Nahen Osten sind die VAE. Diese werden zwar autoritär geführt, sind jedoch wirtschaftlich erfolgreich und politisch stabil. «Gefragt, was ihnen wichtiger sei, die Demokratie oder die Stabilität, entscheiden sich 82 Prozent der jungen Araber für die Stabilität» so der «Economist».
Gleichzeitig wollen diese Staaten auch ihre Abhängigkeit von den USA mindern. Gemäss Angaben des Internationalen Währungsfonds sind die Exporte nach China und Indien in den vergangenen 30 Jahren um 26 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind die Exporte nach Europa und in die USA von 34 Prozent auf 16 Prozent gefallen.
Nicht nur wirtschaftlich haben sich die Gewichte verschoben. An ihrer letzten Zusammenkunft haben die BRICS-Staaten beschlossen, bei ihrer nächsten Sitzung den Iran, Saudi-Arabien, die VAE und Ägypten als vollwertige Mitglieder einzuladen.
Was könnte den Traum von MBS und seiner Renaissance platzen lassen? Da sind primär die gewaltigen Wohlstandsunterschiede in dieser Region zu nennen. Den superreichen Golfstaaten stehen die mausarmen Ägypter, Syrer und Libanesen gegenüber.
Vor allem Ägypten ist ein soziales Pulverfass. Die Wirtschaft des grössten Landes in der Region ist ein Unfall, der darauf wartet, zu passieren. Wegen überrissenen Waffeneinkäufen ist die Staatsschuldenquote auf 93 Prozent des Bruttoinlandprodukts angeschwollen, rund ein Drittel davon in Fremdwährung. Die nicht Öl-produzierende Wirtschaft schrumpft seit Jahren, die Währung hat in den letzten beiden Jahren die Hälfte ihres Wertes eingebüsst, die Inflation liegt bei 38 Prozent.
Wie lange der Burgfrieden zwischen Saudi-Arabien und dem Iran anhalten wird, ist ebenfalls unsicher. Die Ayatollahs in Teheran sind im Begriff, in Besitz einer Atombombe zu kommen. Wie MBS darauf reagieren wird, ist ungewiss. Ein neues Wettrüsten zwischen Saudi-Arabien und dem Iran könnte sich anbahnen.
Schliesslich basiert der Reichtum der Golfstaaten nach wie vor auf den fossilen Brennstoffen. Auch wenn der genaue Zeitpunkt noch nicht feststeht, zeichnet sich angesichts der Klimaerwärmung ein Ablaufdatum ab. Deshalb werden fieberhaft Alternativen geprüft, beispielsweise Solarstrom aus der Wüste oder Tourismus.
Wie erfolgreich diese Bemühungen sein werden, wird sich weisen müssen, denn nach wie vor sorgt vor allem der Staat für Jobs. In Saudi-Arabien beispielsweise sind mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen beim Staat angestellt und beziehen dort Löhne, die so hoch sind, dass private Unternehmen, die mithalten wollen, international nicht wettbewerbsfähig sind.
So gesehen ist es alles andere als sicher, dass sich die nächste Renaissance im Nahen Osten abspielen wird. Daran ändern weder die Ölmilliarden etwas – noch Ronaldo oder Neymar.