Ob inszeniert oder echt – der Militärputsch in der Türkei kennt nur einen wirklichen Gewinner: Präsident Recep Tayyip Erdogan. Mit dem Scheitern der Putschisten ist für alle Welt deutlich geworden, dass die islamistische AKP-Regierung den Machtkampf gegen die Militärs gewonnen hat. Der einst staatstragende Kemalismus in der Türkei ist am Ende.
Schon vor dem Putsch – der dem selbstherrlichen «Sultan von Ankara» Gelegenheit und Vorwand gibt, endgültig mit seinen Gegnern aufzuräumen – hat eine zunehmende Aushöhlung der laizistischen Prinzipien stattgefunden, die seit der Kulturrevolution des Staatsgründers Atatürk galten.
Mustafa Kemal Atatürk war Mitglied der Jungtürken («Jön Türkler»), die vor dem Ersten Weltkrieg das morsche Osmanische Reich nach westlichem – besonders preussischem – Vorbild modernisieren wollten. Nach dem verlorenen Weltkrieg hatte er der jungen Republik, die 1923 aus den Trümmern des Osmanischen Imperiums entstand, eine entschieden westliche und laizistische Ausrichtung verordnet. Sultanat, Kalifat und Scharia wurden abgeschafft, Koedukation und lateinische Schrift eingeführt.
Die Republik sollte auf Grundlage der sechs Säulen des Kemalismus – Nationalismus, Republikanismus, Populismus, Laizismus, Revolutionismus und Etatismus – in die Moderne geführt werden. Der Laizismus darf dabei allerdings nicht als strikte Trennung von Kirche und Staat verstanden werden – es handelt sich eher um eine Verstaatlichung und Entpolitisierung der Religion, eine Art pro-laizistischen Staatsislam.
Doch spätestens seitdem die AKP regiert, findet eine Reislamisierung der Türkei statt. Schrittweise wurden das Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen abgeschafft, reguläre Schulen in religiöse Iman-Hatip-Schulen umgewandelt, der Koranunterricht forciert, der Alkoholverkauf erschwert. Vor allem aber wurden zuletzt die Bemühungen Erdogans unübersehbar, sich selber über die Installierung eines Präsidialsystems immer weitergehende Machtbefugnisse zuzuschanzen.
Es liegt eine bittere Ironie in der Tatsache, dass die islamisch-konservative AKP in ihrem Kampf gegen die Militärs, die Gralshüter des kemalistischen Erbes, anfänglich durchaus eine Verfechterin demokratischer Rechte war. Denn die Armee als Garant der laizistischen und westlichen Ausrichtung des Landes war mitnichten Hüterin der Demokratie. Falls nötig, setzten sich die Generäle souverän über den Volkswillen hinweg und fegten demokratisch gewählte Regierungen aus dem Amt.
Nicht weniger als vier Mal intervenierten die Streitkräfte im 20. Jahrhundert – immer entsprechend ihrem Selbstverständnis als kemalistisches Korrektiv, als Vetomacht gegen politische Fehlentwicklungen, die das Land vom säkularen, westlichen Weg abzubringen oder seinen Zentralismus anzutasten drohten.
Dies war 1960 der Fall, als die Regierung von Adnan Menderes in einem unblutigen Putsch gestürzt wurde. Die Militärs warfen dem Ministerpräsidenten islamische Tendenzen sowie Unterstützung des kurdischen Regionalismus vor. Menderes und weitere Regierungsmitglieder wurden vor Gericht gestellt und hingerichtet. Die Armee übergab im Oktober 1961 die Regierungsgeschäfte wieder einem zivilen Kabinett, bestimmte aber bis 1965 faktisch die Politik.
Der nächste Putsch folgte 1971 – inmitten einer Phase von politischem Chaos, Streiks und gewaltsamen Unruhen. Die Armeeführung zwang die Regierung von Süleyman Demirel mit einem Memorandum zum Rücktritt und diktierte die Bildung einer überparteilichen Regierung, die dann das Kriegsrecht verhängte. Trotz der Repression beruhigte sich die Lage im Land nicht grundlegend. Politische Morde waren an der Tagesordnung, Ende der 70er Jahre herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände.
So putschten die Streitkräfte 1980 erneut. Generalstabschef Kenan Evren verbot Parteien und Gewerkschaften und verhängte das Kriegsrecht. Der bisher repressivste Coup der türkischen Militärs hatte eine Verhaftungswelle zur Folge. Tausende politische Gefangene wurden gefoltert und zum Tod verurteilt. 1982 wurde eine neue Verfassung, die in grossen Teilen heute noch in Kraft ist, in einer Volksabstimmung angenommen.
Zu dieser Zeit begannen die Militärs, den Islam im Rahmen der sogenannten islamisch-türkischen Synthese als sozialen Kitt des türkischen Nationalstaats zu benutzen. Zugleich sollte die Religion als Gegengewicht gegen die starke Linke dienen. Im Zuge dieser Annäherung an die islamistischen Bewegungen legalisierte der Staat Wohltätigkeitsspenden an religiöse Einrichtungen. Islamistische Organisationen wie die Gülen-Bewegung, die nicht partei-gebunden waren, konnten einen massiven Zulauf verzeichnen.
Obwohl die Interventionen des türkischen Militärs im internationalen Vergleich kurz blieben – auch nach dem Putsch von 1980 übergab die Armee innerhalb von neun Jahren die Macht wieder an eine zivile Regierung – verstärkten die Streitkräfte sukzessive ihren bestimmenden Einfluss hinter den Kulissen. Dazu trug auch das wirtschaftliche Standbein der Armee bei: Ähnlich wie die ägyptische Armee oder die iranischen Revolutionsgarden kontrollieren auch die türkischen Generäle bedeutende Wirtschaftsunternehmen, zum Beispiel den Armeefonds Oyak.
Noch 1997 genügte ein Wink der Armeeführung, um die Regierung des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zum Rücktritt zu zwingen. Dessen Wohlfahrtspartei wurde 1998 verboten – mit der expliziten Begründung, dass Säkularität nicht nur die Trennung von Staat und Religion, sondern darüber hinaus den Prozess der Säkularisierung zu fördern habe.
Erdogan, der Mitglied der Wohlfahrtspartei war, gründete 2001 die Nachfolgepartei AKP, die seit 2002 an der Macht ist. Ihre Wählerbasis war die in die Vorstädte (Gecekondus) gezogene Landbevölkerung und der konservative, anatolische Mittelstand. Bis 2013 war Erdogan zudem mit der Gülen-Bewegung verbündet, die heute zu seinen Hauptgegnern gehört.
Mit ihr zusammen gelang es ihm, die Macht der Armee zu beschneiden – in den sogenannten Ergenekon-Prozessen liessen zur Gülen-Bewegung gehörende Juristen auf Grundlage des Antiterrorgesetzes hunderte hochrangige Militärs einschliesslich früherer Generalstabschefs inhaftieren.
Schon 2007 war die Armee nicht mehr stark genug, um die Wahl des AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. 2008 war ein Antrag des Generalstaatsanwalts, die AKP zu verbieten, ohne Chance. Erst mit dem Bruch zwischen Erdogan und Gülen liess 2013 der Druck auf die Armee etwas nach.
Der letzte, kläglich gescheiterte Putschversuch zeigt nun, dass die Armee – mit einem Personalbestand von 600'000 Mann immerhin die zweitstärkste NATO-Armee – nicht mehr mit einer Stimme spricht. Die Säuberungswelle, die jetzt mit voller Wucht einsetzt, wird vermutlich die letzten Bastionen des Kemalismus in den Streitkräften schleifen.