Laut israelischen Angaben haben bis heute mehr als die Hälfte der dafür vorgesehenen russischen Truppen ukrainischen Boden betreten – und Moskau verkündet: Der Krieg verläuft nach Plan.
Die Realität spricht eine andere Sprache. Der Vormarsch der Invasoren kommt ins Stocken. Nur im Süden und den Oblasten Luhansk und Donezk kam Russland in den letzten Tagen zu (bescheidenen) Bodengewinnen. Der Preis dafür ist hoch. Nach zwei Wochen in der Ukraine verzeichnet Russland bereits mehr gefallene Soldaten als die USA in 20 Jahren Afghanistankrieg (2401). Unter den Toten befinden sich auch vier Generäle und mindestens ein Kommandant der Wagner-Elitetruppen. Es geht das Gerücht, dass Russland eigens den Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, einfliegen liess, um seinen Truppen Mut zu machen. Die einst als unbesiegbar geltenden Tschetschenen werden zusammen mit den russischen Verbündeten vor Kiew aufgerieben. Russland steckt vor der Hauptstadt in der Klemme.
Im Kreml soll deswegen mehr als nur dicke Luft herrschen. Der ukrainische Widerstand wurde unterschätzt. Doch die Probleme sind auch hausgemacht, vor allem im Bereich Kommunikation und Logistik.
Kiew ist riesig. Die Fläche entspricht ungefähr derjenigen des halben Kantons Zürich. In Friedenszeiten hat die Stadt vier Millionen Einwohner, aktuell sind es noch die Hälfte. Der Ressourcenverschleiss für eine Belagerung, den Beschuss oder gar für eine Einnahme einer solch grossen Stadt, ist enorm – und ein logistisches Problem.
Russland setzt beim Nachschub wie kein anderes Land auf die Eisenbahn. Im Verhältnis zu westlichen Armeen stehen vergleichbaren militärischen Einheiten dafür weniger TransportLastwagen zur Verfügung. Experten gehen davon aus, dass Russland für einen grösseren Feldzug ausser Reichweite der eigenen Bahnlinien nicht genügend Lastwagen besitzt. Anhand von Modellen, die Ladekapazitäten, Versorgunsbedürfnisse und Transportgeschwindigkeiten berücksichtigen, kann berechnet werden, über welche Distanz Truppen versorgt werden können. Die konkrete Vermutung im Fall von Russland lautet: Den Invasoren fehlen die Mittel, um Truppen über eine Distanz von 140 Kilometern nachhaltig zu versorgen.
Der Nachschub der Einheiten rund um Kiew wird im Westen über Weissrussland und im Osten über Soumy und Tschernihiw gesichert. Sämtliche Versorgungswege sind länger als 160 Kilometer. Alleine die Distanz wird für Russland ein Problem. Doch auf dem Weg lauern weitere Gefahren.
Laut dem Militärexperten des «Stern» attackieren kleine ukrainische Einheiten entlang der Versorgungsachsen immer wieder erfolgreich nachfolgende Truppen mit Drohnen oder Abwehrraketen. «Die Ukrainer zeigen in dieser Hinsicht sehr viel Kreativität», bestätigt ein amerikanischer Beamter des Verteidigungsministeriums gegenüber der CNN diese These.
#Ukraine: Russian supply truck (Appears to have ammo inside) destroyed by a Turkish made tb2 bayraktar strike recently.#UkraineRussianWar pic.twitter.com/yN7RQk3QvL
— INDEPENDENT PRESS (@IpIndependent) March 12, 2022
Dass die Ukrainer wissen, wo sie angreifen müssen, liegt auch an den russischen Kommunikationsproblemen. Die als Hightech verkauften Funkgeräte funktionieren nur mangelhaft. Zahlreiche Verbände kommunizieren deshalb mit handelsüblichen Mobiltelefonen – und werden dabei abgehört. Verschiedene Gespräche wurden vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlicht. Zum Beispiel die Todesmeldung eines Panzer-Kommandanten westlich von Kiew nach einem Drohnenangriff.
Der Militärexperte des «Stern» geht davon aus, dass Russland bei Kiew auf dieselben Mittel zurückgreift, wie bei den anderen Städten zuvor: Angriff mit Artillerie. Doch Artilleriemunition ist sperrig. Als Russland 1995 das wesentlich kleinere Grosny in Schutt und Asche legte, verfeuerten russische Truppen bis zu 50 Lastwagenladungen pro Tag. Doch auch diese müssen zuerst den Weg vor Kiew finden. Ein Unterfangen, das Russland aktuell weniger zugetraut wird.