Er forscht weiterhin in Moskau über seine russische Heimat, obschon Andrei Kolesnikov unlängst zum «ausländischen Agenten» erklärt wurde – also zum Verräter. Dem US-Magazin «Foreign Affairs» erklärte Kolesnikov, wie Putins System funktioniert. Wie er die Massen kontrolliert mit Geld, Patriotismus, Todeskult und einem ungeschriebenen gesellschaftlichen Vertrag – und wie Putin die Macht verlieren könnte.
Nur 20 Prozent der russischen Gesellschaft würden in einer Demokratie leben wollen und wünschten sich mehr westliche Kultur. Weitere 20 Prozent seien überzeugte Unterstützer von Putin und dessen Idee eines russischen Grossreichs. Noch wichtiger sei, dass es in der Mitte einen grossen «Sumpf oder Morast» gebe, dem 60 Prozent der Menschen angehören.
Die Menschen in diesem Sumpf tun alles, um ihr ruhiges Leben zu behalten. Sie hören auf, unabhängig zu denken; tun, was Putin befiehlt; sprechen nach, was er sagt. Weil sie nicht auf der Seite des Bösen stehen wollen, verdrehen sie Gut und Böse, zwingen sich zu glauben, Putin bringe Frieden in die Ukraine. «Auf diese Weise können sie überleben.»
Um diese Gruppen zu beherrschen, verwendet Putin immer öfter die Peitsche, aber noch immer viel Zuckerbrot. Er hat Millionen völlig abhängig gemacht vom Sozialstaat – und damit von sich. Jeder Dritte – 33 Prozent der Bevölkerung – sei wirtschaftlich abhängig von Sozialleistungen, weitere 25 Prozent von einer anderen Person.
Auch wenn staatliche Statistiken heute weniger zuverlässig seien, findet Kolesnikov diese Zahlen «schockierend». Sozialleistungen sind heute wichtiger als in der kommunistischen Sowjetunion. Ihr Anteil am Einkommen der Bevölkerung ist heute grösser.
Putin habe dies so gewollt, er habe Geld aus dem Export von Öl und Gas ausgegeben, um den staatlichen Einfluss zu maximieren. Den freien Markt drängte er zurück. Das Kalkül dahinter war klar: Wer vom Staat abhängt, widersetzt sich ihm nicht, der ist gehorsam.
Es gibt noch mehr Zuckerbrot. Putin hat den Menschen einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag angeboten, der laut Kolesnikov so lautet: «Seid ruhig, seid gute Bürger, seid patriotische Bürger, gebt mir eure Stimme an den Wahlen. Im Gegenzug dürft ihr euer ruhiges Leben behalten und euch auf eure privaten Probleme konzentrieren.»
Dieser Deal schien tot, als Putin zig Tausende von Zivilisten für den Krieg mobilisieren liess. Doch zuletzt, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom März, sagte Putin, eine neue Mobilisierung werde es nicht geben, und er bot einen neuen Deal an: «Einige von euch können in den Krieg ziehen, wir zahlen dafür und geben zu, dass ihr grosse Patrioten seid. Aber nicht alle von euch müssen diese Option wählen. Ihr könnt zu Hause bleiben, ihr könnt Leute sein, die daheim für unseren Sieg arbeiten.»
Eigentlich sind die Menschen in Russland keine Fans von Putins Imperialismus. Vor Kriegsausbruch konnten Soziologen zeigen, dass das Prestige eines Landes für sie nicht von militärischer Stärke abhängt. Ihnen war die Grösse der Wirtschaft wichtiger, ihr Wohlstand. Die Menschen wollten gut leben, nicht im Kugelhagel gottverlassene Hügel stürmen.
Diesen ideologischen Graben habe Putin mit viel Geld überbrückt: höhere Löhne für Soldaten, grosszügige Leistungen für Angehörige von Verletzten oder Getöteten. Moskau sei zugepflastert mit Werbung, wonach der Militärdienst in der Ukraine ein «echter Job» sei für «echte Männer».
Im Sommer habe Putin geprahlt, die Einkommen würden steigen. Doch im dahinschwindenden Privatsektor wird dieses Geld nicht erwirtschaftet. Es kommt vom Staat, aus Sozialleistungen oder Löhnen für die Sicherheitskräfte. Putin erkauft sich den Gehorsam.
Das Regime verfüge über ein gewaltiges Arsenal an Instrumenten. Es kontrolliert die Gerichte, mit denen es Kritiker zu stalinistischen Haftstrafen verurteilt. Es kann sie zu «ausländischen Agenten» erklären, so wie letzten Dezember auch Kolesnikov, und sie damit freigegeben für Schikane, Bedrohung, Einschüchterung.
Es hat nahezu alle unabhängigen Medien schliessen oder den Zugang zu ihnen blockieren lassen. Und es hat den inoffiziellen Stempel eines «Verräters der Nation» für jeden, der nicht in Begeisterungsstürme ausbricht über den Ukraine-Krieg oder Russlands schleichenden Wandel zu einem militaristischen Polizeistaat.
Seit dem Kriegsbeginn bewirbt das Regime die Idee eines heldenhaften Todes für das Vaterland. Putin argumentiert persönlich, ein Tod auf dem Schlachtfeld bedeute ein erfülltes Leben – ein Leben, das nicht umsonst gelebt wurde.
Einer Gruppe von Müttern, deren Söhne umgekommen waren, sagte Putin: «Bei einigen Menschen bleibt es unklar, warum sie gestorben sind – wegen Wodka oder wegen sonst irgendetwas ... ihr Leben verging unbemerkt. Aber Ihr Sohn hat wirklich gelebt – verstehen Sie das? Er hat seine Ziele erreicht.»
Diese Idee durchdringe heute schon die Kultur Russlands. Kolesnikov nennt als Beispiel den Popstar Shaman, den die Kreml-Propaganda zum Sprachrohr für militärische Expansion gemacht habe. In seinem Hit «Let's Rise» singt er, dass «Gott und die Wahrheit auf unserer Seite sind», und er fordert dazu auf, die Gefallenen zu preisen – «diejenigen, die sich im Himmel wiedergefunden haben und nicht mehr unter uns sind».
Stiller Gehorsam genügt Putin in vielen Situationen nicht länger. Die Menschen sollen ihre Unterstützung deutlich zeigen. Russische Schulen müssen «Patriotismus» unterrichten. Lehrbücher erklären, wie Putins Entscheide verstanden werden müssen. Zu seinen Auftritten lässt er das Publikum zwangsweise hinbringen.
Putins System wandelt sich, glaubt Kolesnikov. Es bewegt sich weg von einer Autokratie, die Freiräume lässt, solange die Menschen im Privaten bleiben. Die Kontrolle wird totaler. Was immer Putin sagt, niemand darf es bestreiten; was immer geschieht, nur seine Deutung davon gilt. Was die Russen denken – das bestimmt er.
Putin hat ein System der Selbstbereicherung ohnegleichen geschaffen, er könnte der reichste Mensch der Welt sein. Der Westen glaubte darum lange, es gehe ihm nur um Geld, Villen und Jachten. Doch für Kolesnikov war Putin nie ein reiner Kleptokrat. Den Angriff auf die Ukraine hätte es nicht gegeben, wenn nicht über allem eine Ideologie stünde.
Der Westen befindet sich demzufolge in einem moralischen Niedergang. Ihn zu ersetzen und damit die christliche Zivilisation zu verteidigen, ist Russlands historische Mission. Dafür muss es die konservativen Grundsätze der russisch-orthodoxen Kirche neu beleben, und es muss sein Imperium zurückerlangen, zunächst die heutige Ukraine und Belarus.
Putin werde nicht so bald stürzen, selbst wenn er in der Ukraine verliert. Er werde die Worte finden, um aus der Niederlage einen Sieg zu machen. Und er wird zwar bald weniger Geld haben, um sich eine loyale Bevölkerung zu erkaufen. Das Ölgeld wird weniger durch die westlichen Sanktionen; der Wirtschaft fehlen die Menschen, die in der Ukraine kämpfen oder gefallen sind; die Armee verschlingt Unsummen. Das könnte ihm gefährlich werden.
Doch am Ende werde Putin wohl auch dies überstehen, glaubt Kolesnikov. Fehlt das Geld für die Menschen, bliebe noch immer genug für Polizei, Armee oder Geheimdienste – und diese erzwingen dann die Loyalität der Menschen, notfalls mit Gewalt gegen Aufmüpfige. «Putin ist noch immer in einer stabilen Position.» (aargauerzeitung.ch)