«Nein», sagt Joe Biden entschieden, dann verschwindet er grusslos zur Tür hinaus. Eine Reporterin hatte den US-Präsidenten gerade gefragt, ob er die Nationalgarde einsetzen wolle, um die propalästinensischen Proteste einzudämmen, die an immer mehr Hochschulen in den USA ausbrechen. Biden hat gute Gründe dafür, das nicht zu tun. Bilder davon, wie bewaffnete Soldaten und Studierende sich gegenüberstehen, will der Präsident unbedingt vermeiden.
Zum einen wegen der Eskalationsspirale, die damit droht. Schon jetzt zeigt sich: Je stärker Sicherheitskräfte gegen einzelne Proteste vorgehen, desto mehr davon spriessen an anderen Orten aus dem Boden. Nachdem die Polizei an der Columbia University in New York ein von Demonstranten besetztes Gebäude gestürmt und über 300 Menschen festgenommen hatte, verbreiteten sich verstärkt Szenen von Protesten an anderen Unis – etwa an der University of California in Los Angeles, der University of Wisconsin in Madison und am Dartmouth College in New Hampshire.
In Los Angeles kam es zu Gewalt: Zunächst griffen Gegendemonstrierende mit Israel-Flaggen das Protestcamp an. Als einen Tag später die Polizei begann, das Camp zu räumen und die Barrikaden niederzureissen, versuchten Protestierende, das zu verhindern. Laut einem Video des Senders CNN feuerten die Polizisten dabei auch Gummigeschosse ab.
Insgesamt wurden im Rahmen der Proteste bundesweit bereits über 2'100 Personen verhaftet. An manchen Hochschulen stellten sich Dozenten schützend vor die Protestierenden. Laut Behörden sind unter diesen Protestierenden viele «Agitatoren von aussen», wie es der Bürgermeister von New York City ausdrückte; etwa die Hälfte der an der Columbia University Festgenommenen etwa soll mit der Uni nichts zu tun gehabt haben.
Das ändert nichts an dem Entsetzen, das viele in der akademischen Community angesichts dieser Verhaftungen empfinden. Sie fürchten um die Meinungsfreiheit an ihren Institutionen und um die Freiheit der Lehre. Manche fürchten, dass sich die Geschichte wiederholt: Vor 50 Jahren wurden Studierendenproteste gegen den Vietnamkrieg und den institutionellen Rassismus teils blutig niedergeschlagen.
Biden antwortete mit einer kurzen Ansprache am Donnerstagmorgen (Ortszeit) und versuchte, den richtigen Ton zu treffen. «Dissens ist für die Demokratie unerlässlich», sagte der Präsident im Weissen Haus. «Aber Dissens darf niemals zu Unruhen führen.» Er verstehe, dass Menschen starke Gefühle und tiefe Überzeugungen hätten, sagte Biden weiter. «In Amerika respektieren wir das Recht der Menschen, dies auszudrücken.»
Biden mahnte aber auch, Antisemitismus und Drohungen gegen jüdische Studierende hätten keinen Platz in den USA. Das betont der Präsident besonders. Zu solchen Drohungen ist es im Rahmen der Proteste bereits öfter gekommen, nicht nur auf Schildern und Transparenten. An der Columbia University wurde einer der Anführer des Protests suspendiert, der sich bereits in der Vergangenheit antisemitisch geäussert hatte und unter anderem sagte: «Zionisten verdienen es nicht, zu leben.» Wiederholt berichteten jüdische Studierende, dass sie sich auf ihrem Campus nicht mehr sicher fühlten.
Allerdings sind auch Jüdinnen und Juden unter den Teilnehmern der Proteste. Die Gruppierungen selbst bezeichnen sich meist als «antizionistisch» und erklären, gegen einen Genozid zu protestieren, den Israel in Gaza verübe.
Dass diese Bewegung so diffus ist, macht es schwieriger, ihr zu begegnen. Dass Biden sich nach fast zwei Wochen Protesten nun persönlich äusserte, zeigt, wie sehr er unter Druck steht. Der Gaza-Krieg ist ein ohnehin heikles Thema für ihn, das ihn bei der Wahl im November wichtige Stimmen kosten könnte. Gerade bei jungen Wählerinnen und Wählern.
Auch deshalb kommt es ihm sehr ungelegen, dass jetzt unschöne Szenen entstehen: junge Menschen, die von ihrem Campus mit Kabelbindern gefesselt abgeführt werden. Polizisten in taktischer Schutzausrüstung, die sich ihren Weg durch Barrikaden bahnen. Biden befehligt die einzelnen Polizeibehörden nicht. Was sie tun, bleibt dennoch auch an ihm hängen.
Zugleich will der Präsident nicht den Eindruck erwecken, zu viel Nachsicht walten zu lassen. «Vandalismus, Hausfriedensbruch, das Einschlagen von Fenstern, die Schliessung von Universitäten, die erzwungene Absage von Seminaren und Abschlussfeiern – nichts davon ist ein friedlicher Protest», sagte er. «Es gibt das Recht zu protestieren, aber nicht das Recht, Chaos zu verursachen.» Damit scheint Biden sich an die breite Masse der Wählerinnen und Wähler zu wenden, für die die Lage in Gaza vermutlich ein weniger emotionales Thema ist als für andere. «Ordnung muss Vorrang haben», solche Sätze sollen Stabilität vermitteln und den Eindruck eines Präsidenten, der auch diese Lage im Griff hat.
Seit Jahren machen die Republikaner Stimmung mit dem Thema öffentliche Sicherheit. Sie zeichnen von Demokraten regierte Grossstädte als Hort des Chaos und der ungezügelten Kriminalität. Hochschulen stellen sie derweil als abgehobene Sphären woker Elite dar. Durch die Bilder von Studierenden in New York oder Los Angeles, die Universitätsgebäude blockieren und sich den Anweisungen von Unileitung und Behörden widersetzen, fühlen sie sich nun bestätigt. Und Biden ist unter Zugzwang.
Den Einsatz der Nationalgarde hatte nicht zuletzt Mike Johnson gefordert, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses. Auch er steht in diesen Tagen unter Druck: Die rechtsextreme Abgeordnete Marjorie Taylor Greene will ein Misstrauensvotum gegen ihn durchsetzen, weil Johnson gemeinsam mit den Demokraten Militärhilfen für die Ukraine durch den Kongress brachte. In den Protesten hat der Sprecher nun eine politische Gelegenheit für sich erkannt.
Wenige Tage, nachdem Protestierende an der Columbia University ein Zeltcamp errichtet hatten, tauchte Johnson gemeinsam mit anderen republikanischen Abgeordneten dort auf. Auf den Stufen der Bibliothek erklärte er, mit dem Besuch ein Zeichen setzen zu wollen: «Als Sprecher des Repräsentantenhauses verpflichte ich mich heute, dass der Kongress nicht schweigen wird, wenn von jüdischen Schülern erwartet wird, dass sie um ihr Leben rennen und aus Angst zu Hause bleiben.»
Gleich mehrere Ausschüsse im Repräsentantenhaus, wo die Republikaner die Mehrheit haben, beschäftigen sich derzeit mit den Protesten. Johnsons Fraktion hat ausserdem einen Fernsehspot geschaltet, in dem sie den Demokraten eine Mitschuld an der Eskalation gibt. «Antiisraelproteste auf dem Collegecampus bedrohen jüdische Studenten», heisst es darin. «Und die extremen Demokraten im Repräsentantenhaus weigern sich, sie zu verurteilen.»
Dabei haben die Republikaner gerade gemeinsam mit den Stimmen vieler Demokraten den Antisemitism Aware Act beschlossen. Er sieht eine erweiterte Definition von Antisemitismus vor: Diese soll sich künftig an den Vorgaben der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) orientieren, die dezidiert auch auf israelbezogenen Antisemitismus zielt. Als Beispiel zählt die IHRA auf, «Juden als Bevölkerung zu beschuldigen, für tatsächliches oder imaginiertes Fehlverhalten verantwortlich zu sein, das von einer einzelnen jüdischen Person oder Gruppe begangen wurde». Das dürfte also vieles umfassen, was im Rahmen der Campusproteste geäussert wird.
Damit der Entwurf Gesetz wird, muss er es noch durch den Senat schaffen. Aber auch schon im Repräsentantenhaus gab es Dutzende Stimmen dagegen. Zum einen unter linken, propalästinensischen Demokraten. Zum anderen unter den extrem rechten Republikanern, so wie Greene. Sie lehnen den Entwurf ab. Nicht nur aus Opposition zu Johnson und der überparteilichen Zusammenarbeit. Sondern auch, weil zu ihrem christlich-fundamentalistischen Repertoire – beeinflusst von evangelikalen Predigern – die antisemitische Erzählung gehört, die Juden seien schuld am Tod Jesu. An einem Gesetz, das deutlicher als bisher festlegt, was antisemitisch ist, haben sie dementsprechend wenig Interesse.
Inmitten dieser Gemengelage versucht auch Donald Trump die Lage für sich zu nutzen. Es seien «radikal linke Verrückte», die an den Unis protestieren. «Sie müssen gestoppt werden», sagte der Ex-Präsident am Rande der Gerichtsverhandlung, die gerade gegen ihn in New York City läuft. «Wir lassen sie nicht die USA übernehmen.» Davon spricht natürlich niemand. Aber in einem Präsidentschaftswahlkampf, zumal in einem so erhitzten wie diesem, können solche populistischen Phrasen viel Macht entwickeln.
Zwischen all diesen Fronten wird Joe Biden weiter versuchen, nicht zerrieben zu werden. Es kommt schliesslich noch eine dazu: Während die US-Regierung Israels Premierminister Benjamin Netanjahu von einer Offensive auf die Stadt Rafah abzuhalten versucht und sich zuversichtlich zeigt, es werde bald zu einer Waffenruhe kommen, will Netanjahus Rhetorik das so gar nicht widerspiegeln.
Macht er tatsächlich ernst mit der Offensive, könnte das auch die Campusproteste in den USA neu entfachen. Sich wochen- oder gar monatelang hinziehende Unibesetzungen inklusive Auseinandersetzungen mit der Polizei, dazu Kritik und Spaltung auch in der eigenen Partei: Für Bidens offizielle Nominierung als Präsidentschaftskandidat, die im August ansteht, wäre das die denkbar schlechteste Kulisse.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Es wird immer verrückter...
Ich war jahrelang in einer evangelikalen Freikirche und etwas war dort immer klar: man steht bedingungslos hinter Israel.
Dass sich das in den USA geändert hat, zeigt dass die Evangelikalen tatsächlich direkt auf dem Weg ins Mittelalter sind. Dieses Narrativ war damals effektiv der Grund für die Kreuzzüge.
Dass sich die extreme Linke noch dazugesellt setzt der Absurdität die Krone auf!