Erst gingen Harry und Meghan nach Amerika. Und dann gingen sie zu Oprah und redeten sich restlos alles von der Seele. Jedenfalls ist dies die Erwartung vor dem grossen Interview, das der amerikanische Sender CBS am 8. März um 02.00 Uhr (unsere Zeit) ausstrahlt. Grossbritannien und Europa werden es am 8. März um 21 Uhr sehen können. Die britischen Royals zeigen sich im Vorfeld bereits von ihrer medial intrigantesten Seite und lancieren jetzt das Gerücht, Meghan habe während ihrer Zeit in England mehrere Assistentinnen aus dem Haus geekelt.
Die Wahl der Talkmasterin für den Seelenstriptease der beiden ist nur folgerichtig. Wer in Amerika gross herauskommen will, findet keine effizientere Multiplikatorin als sie. Zudem kennen Harry und Maghan Oprah bereits: Sie gehörte an der Hochzeit der beiden zu jenem Star-Bouquet, das auch die Clooneys, die Beckhams oder Idris Elba schmückten.
Sie hatte damals auch schon mit Meghans Mutter Doria Ragland Yoga gemacht und Kumquats gegessen, wie sie nicht müde wird zu betonen. Die wirkungsmächtigste schwarze Frau neben Michelle Obama hatte sich der schwarzen Sozialarbeiterin Ragland angenommen und sie damit in die amerikanische Form des Adelsstands erhoben. Aber was macht Oprah Winfrey eigentlich so beliebt und wichtig unter den Prominenten?
Oprah Winfrey verkörpert den amerikanischen Traum in einer Vollkommenheit wie keine andere: 1954 kam sie als Tochter eines minderjährigen Dienstmädchens zur Welt und verbrachte die ersten Jahre bei ihrer Grossmutter, die so arm war, dass sie Oprahs Kleider aus Kartoffelsäcken nähte. Ab neun Jahren wurde sie von einem Cousin, einem Onkel und einem Freund der Familie missbraucht, mit dreizehn floh sie von zuhause, mit vierzehn war sie schwanger, das Kind starb kurz nach der Geburt. Ihren Halbbruder verlor sie später an Aids, ihre Halbschwester starb durch eine Überdosis Kokain.
Die Städte, in denen sie arbeitete, wurden grösser, aus Nashville wurde schnell Baltimore, dann Chicago, ihre Shows wurden ebenfalls grösser und ab Mitte der 80er-Jahre war sie nicht mehr aus dem amerikanischen Medienzirkus wegzudenken. Sie gilt rückblickend als die reichste afroamerikanische Person des 20. Jahrhunderts. Sie ist Eigentümerin des Produktionsunternehmens HARPO Productions und CEO des seit 2011 existierenden Oprah Winfrey Network OWN. Ihr Vermögen beträgt laut «Forbes» 2021 2.6 Milliarden Dollar.
1985 spielte sie auch noch unter Steven Spielberg in «The Color Purple» ihre erste Filmrolle und dies so (bis heute) ergreifend, dass sie für einen Oscar als beste Nebendarstellerin nominiert wurde. Sie blieb dem Filmbusiness treu, gelegentlich als Darstellerin, aber immer öfter auch als Produzentin von Filmen über afroamerikanische Schicksale wie «Beloved» (in dem sie auch die Hauptrolle spielte), «Precious» oder «Selma».
Sie ist nicht einfach eine TV-Journalistin, sondern selbst ein Superstar. Mal die bestverdienende Person im amerikanischen Showbiz. Mal die einflussreichste Person des Jahres. Bei allen Erhebungen von Medien wie «Forbes» oder «Times», bei denen es um Geld, Macht, Einfluss geht, liegt sie weit vorne.
Oprah ist die Komplizin der Stars, die sich ihr anvertrauen. Ihr Metier sind Zuwendung und Einfühlsamkeit. Sie ist die Versteherin ihrer Gäste und gelegentlich auch ihre Dompteurin, aber nie ihre Zerstörerin. Sie ist mütterlich, streng, aber auch gütig. Wem sie vergibt, dem vergeben Millionen vor den TV-Geräten. Ihre Gespräche sind lang und werden mit den Teilnehmenden oft über Wochen vorbereitet – das Interview mit Harry und Meghan sei das Ergebnis eines dreijährigen Austausches mit Meghan, sagt sie.
Es gibt in Amerika zwei Institutionen, in denen sich Prominente im grossen Stil reinwaschen können: Die Rehab und Oprah Winfrey. Beides sind Orte der Beichte. Säkularisierte Kirchen. Wer daraus hervorgeht, tut Busse für seine Vergehen oder wird erlöst von altem Unglück. Wer sein Zimmer in der Rehab oder das Sofa von Oprah verlässt, beginnt ein neues, besseres Leben.
Beides wird jeweils medial gross vermarktet: Wer in die Rehab geht, wer sich also nicht nur körperlich oder psychisch, sondern auch gesellschaftlich rehabilitiert und damit seine Gesundheit, aber auch seinen Ruf wiederherstellt, kommuniziert dies via Presse oder soziale Medien. Manche vor dem Eintritt, andere beim Verlassen.
Legendär, wie Tom Cruise sich 2011 auf den Boden warf und auf das goldene Sofa hüpfte, um seiner Liebe für Katie Holmes Ausdruck zu geben. Unvergesslich, wie Radprofi Lance Armstrong ihr 2013 gestand, gedopt zu haben. Und nirgendwo wurde in den vergangenen Jahrzehnten so viel geweint wie bei Oprah. Man taucht in Oprahs öffentlichem Läuterungstränenbad unter und strahlend wieder auf.
Das hat in Amerika, dem Land, das Süchte wie kein anderes doppelt zu bedienen weiss – indem es sie anheizt und dann wieder kuriert –, seine einzigartige Richtigkeit. Erst die Übertretung – durch Alkohol, Medikamente, Fress- oder Sexsucht –, dann die Kur. Hierzu gehört auch die auffallende Präsenz von Psychoanalytikern und -therapeuten in amerikanischen Filmen und Serien: Selbst Mobster Tony Soprano legte sich bei seiner Analytikerin ganz zahm auf die Couch. Oprah braucht dafür jeweils nur eine einzige Sendung. Oder einen einzigen Auftritt in einer Sitcom: Im April 1997 spielte sie die Therapeutin, der Ellen DeGeneres in «Ellen» gestand, lesbisch zu sein.
Jetzt wird erwartet, dass die abtrünnig gewordenen Harry und Meghan sich bei Oprah ebenfalls vor aller Welt offenbaren und Neues, Berührendes, Verletzliches von sich kundtun. Theoretisch ist das möglich. Auch wenn wir uns gerade nicht wirklich vorstellen können, was die beiden denn so Erschütterndes zu berichten haben könnten. Aber Oprah wird schon für einen Scoop sorgen. Sie hat das schon so oft getan.