6 Uhr früh. Der Wecker klingelt. Präzision: Es ist kein «Wecker». Es ist mehr ein Sirenenalarm, gepaart mit einem Rock-Konzert. Begleitet von einem grellen Licht, wie beim Gynäkologen. Eine riesige runde Lampe an der Decke blendet selbst durch geschlossene Lider.
Tim springt wie von einer Wespe gestochen aus dem Bett. Er reisst die Fensterläden auf, dann das Fenster. Draussen ist es stockdunkel und etwa fünf Grad.
Ich ziehe die Decke über den Kopf und wimmere. Tim scheint belustigt. Ich habe drei Stunden geschlafen. Mir war eiskalt. Das Bett war zu hart. Das Kissen zu flach. Vor einer Stunde hat die Kaffeemaschine in der Küche automatisch angefangen, sich aufzuwärmen, während ich noch immer fror und das nervige Geräusch mich erst recht am Schlafen hinderte.
Tim lag währenddessen selig neben mir. Mit seinen massgefertigten Ohrstöpseln, der schwarzen Augenmaske und der warmen Decke. Ich hatte eine zweite, leichtere Decke bekommen.
Einerseits war der Grund dieser: Nach unserem «Date» war es schon ein Uhr morgens, es hat genieselt und unter diesen Umständen den Heimweg anzutreten, schien mir zu viel verlangt.
Die Vorgeschichte, wie ich überhaupt bei ihm zu Hause gelandet bin, geht so: Der Abend begann harmlos. Ich war mit einem Freund an einer Finissage. Inspirierende Kunst, nette Menschen, kein Alkohol, dafür umso mehr Gelächter. Ich hab Lust auf Sex und Abenteuer (Stichwort «horny und ein wenig einsam»). Also melde ich mich bei Tim. Wir haben kürzlich gematcht.
... einige SMS, einen Videocall und eine Google-Suche später stehe ich vor seiner Türe. Gemäss meinen Recherchen scheint er kein Irrer zu sein. Zuvor habe ich einem guten Freund Tims vollen Namen inklusive Adresse geschickt. Sicher ist sicher. Es ist mittlerweile nach zehn Uhr abends. Es ist ein Wochentag.
Als Tim mir die Türe aufmacht, bin ich froh, dass er genauso clean und nett aussieht wie auf seinen Fotos – und dass wir gleich anfangen, Spässchen zu machen.
Es ist uns beiden klar, wieso ich hier bin. Umso schöner finde ich es, dass wir uns erst ganz gesittet ins Wohnzimmer setzen. Die Wohnung ist steril und leer. Ich wähne mich in einem Kloster, nur dass kein Kreuz an der Wand hängt, sondern eine Buddha-Statue auf der UCM-Kommode steht. Die Möbel sind aus kaltem schwarzen Leder. Der riesige Fernseher bildet das Zentrum des Wohnzimmers. In der Ecke steht einer dieser runden Roboterstaubsauger, die ich so dämlich finde. Wir trinken Leitungswasser und sitzen mindestens drei Meter auseinander.
Das Gespräch fliesst aber lustig vor sich hin. Wir reden über unsere Jobs, das Reisen, Fotografie. Nichts Verfängliches. Als ich ihm sage, dass mein Nacken verspannt ist, was er tatsächlich ist, weiss er zu helfen. Er holt eine dieser Blackrolls und zeigt mir eine Übung. Ich liege also auf meinem Rücken auf dem kalten Parkettboden seines Wohnzimmers. Wo bleibt die Filmcrew für diesen Billigporno?
Nach einem Blick, der für uns beide «Okay» bedeutet, küssen wir uns. Es ist – wie soll ich sagen – interessant. Seine Küsse erinnern mich an eine Eidechse. Die Zunge schnellt hektisch rein und raus und von Seite zu Seite. Aber gut, mal schauen, was da noch kommt.
Als er seine Hand um meinen Hals legt, gefällt es mir schon viel mehr. Zugleich denke ich augenblicklich: «Oh-o! Ich kenne den Typen nicht.»
«Wenn mir etwas zu viel wird, sage ich es und du hörst auf. Ok?!», sage ich.
Er hält so schlagartig inne, wie ich ihn das gefragt habe.
«Natürlich», versichert er mir.
Der Spass kann beginnen. Und spassig war's sehr. Die Details überlasse ich eurer Fantasie. Nur ein Gedankenanstoss: Meine eine Pobacke hatte am Morgen nicht mehr dieselbe Farbe wie am Abend zuvor.
Und dann kam der besagte nächste Morgen. Eingeschlafen, wenn man dem so sagen kann, war ich auf «meiner» Hälfte des Bettes. Einen Armbreit von Tim entfernt. Er hatte mir nämlich mit seiner Körpersprache recht deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht der kuschlige Typ ist.
Nach dem traumatischen Weckerlebnis gibt es immerhin sehr edlen Kaffee zum Frühstück. Schwarz, kein Zucker, keine Milch. Der Kühlschrank des Guten ist natürlich so leer wie seine übrige Wohnung.
Während er duscht, schaue ich mich bei ihm ein wenig um. Schöne Kunst, ein einziges Mini-Bücherregal mit etwa zehn Büchern, kein Witz. Oh, wie schade, auch für ihn. Lesen ist doch so schön. Aber man soll nicht von sich auf andere schliessen.
Bald darauf schliesst er die Türe seiner Wohnung hinter uns zu und wir gehen zusammen nach draussen. Er Richtung Zug, ich zu meinem Fahrrad. Beschwingt radle ich im Morgengrauen nach Hause. Angenehm beschwipst von der Müdigkeit und dem guten Sex. Trotzdem würde ich den Eidechsenmann künftig nie mehr sehen. Das unkuschelige Einschlafen und brutale Weckerlebnis waren mir dann doch eine Nummer zu viel.
Und wer hat bei euch schon sämtliche Klischees erfüllt?
Süsse, horny und ein wenig verstörte Grüsse,
LucyT
TRN
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