«Ding-Dong.» Mit pochendem Herzen stehe ich vor Junes Tür im Zürcher Seefeld. «Ding-doong!» Immer noch nichts. Mein Herz beschleunigt seinen Takt. Ich studiere das Poster, das an der Türe hängt. Wunderschöne nackte Frauenskulpturen des Künstlers Hermann Haller. Ich verliere mich in ihrem Anblick, zeichne gedanklich mit meinen Fingern die Konturen ihrer eleganten Körper nach und stimme mich schon mal auf einen hoffentlich sinnlichen Abend ein. – Wobei – ich weiss gar nicht, worauf ich hoffe. Hauptsache June sehen, lachen, reden, mich mit ihr verbunden fühlen, wie beim letzten Mal.
Ich werde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als June lachend die Türe aufmacht. «Entschuldige, ich hab die Klingel nicht gehört!». Im Hintergrund dröhnt in voller Lautstärke ein Lied vom neuen Album von Cat Power. «Oh, ich liebe Cat Power! Hast du schon gehört, dass sie bald nach Zürich kommt?», quassle ich gleich los und kann meinen Blick nicht von ihren rot bemalten Lippen losreissen. An mir selbst mag ich Lippenstift ja weniger; ich will nicht so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Aber bei anderen, huii, schmacht ...
«Wie toll wegen dem Konzert!», erwidert June und zieht mich zur Begrüssung zu sich heran. Während wir uns umarmen, blicke ich neugierig über ihre Schulter in die Wohnung. Eine Mischung aus Skandi-Style und 60er-Jahren, warme Farben, gedämpftes Licht, der Geruch nach Palo Santo; genau mein Ding.
Aus der Küche duftet es lecker nach Risotto. «Ich liiebe es zu essen und wer für mich kocht, dem oder der verfalle ich auf der Stelle», pflege ich zu witzeln. Das gibt aber noch Stoff für mindestens einen weiteren Text. Es geht um verkatertes Pommes-Essen nach einer Hochzeit in Irland, einem spontanen Roadtrip und viel Sex mit einem vollbärtigen, glatzköpfigen sexy Hünen namens Connor 🤩. (Anm. der Red.: Ja, ich trank früher wirklich gerne eins über den Durst – und come on, es war eine irische Hochzeit. Seid versichert, dass es mir gut geht und ich mittlerweile sehr viel gemässigter drauf bin).
June und ich sind mittlerweile beim Essen angelangt. Es ist superlecker und June hat zum Glück auch gute Manieren. Mag sich kleinlich anhören, alles andere ist aber ein absoluter Abtörner für mich.
Wir lachen viel, wie schon bei unserem ersten Date plätschert das Gespräch ganz natürlich dahin und es ist ein ausgewogenes Hin und Her. Wir sind uns einig: Wer die Serie «The Office» nicht mag, hat bei uns keine Chance und wer über 35 Jahre alt ist und das Wort «fix» ohne Ironie braucht schon gar nicht. («Fix» lässt sich so ziemlich in allen Lebenslagen als zustimmende Antwort oder Bekräftigung verwenden. Beispielsätze: Magst du Pommes? – Fix! / Das war echt ein super Wochenende! – Fiiix! Am besten dabei das «i» bis zur Schmerzgrenze in die Länge ziehen.)
Wer Singer-Songwriter Musik mag und sich für Literatur und Sprache begeistert, hat dafür umso mehr Chancen bei uns. Als wir über Hipster und Zürich reden, kommen wir unweigerlich auf diesen Klassiker zu sprechen und kugeln uns vor Lachen:
Während June auf dem Klo ist, erhole ich mich von unserem Lachanfall und begutachte ihr Bücherregal: Haruki Murakami, Chimamanda Ngozi Adichie, Elif Shafak, Leïla Slimani und Markus Werner reihen sich aneinander. Uff, genau mein Geschmack! Egal, auf welches Geschlecht ich denn nun wirklich stehe – Menschen, die lesen, finde ich einfach sexy.
Ohne dass ich es bemerke, ist June hinter mich getreten, legt ihren Kopf sanft auf meine Schulter und drückt ihren Oberkörper leicht an meinen. «Und, heisst du meinen Büchergeschmack gut?», fragt sie spielerisch. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals. «Fiiix», antworte ich lachend. Als ich mich zu ihr umdrehe, schaut sie mich fordernd und neugierig an. «Darf ich dich küssen?», fragt sie geradeheraus. Bevor ich mit «fiix» antworten kann, nicke ich schon enthusiastisch und unsere Lippen finden sich.
Kein gutes Zeichen, denn wenn ich erregt bin, schaltet sich mein Kopf normalerweise auf herrliche Weise wie von Zauberhand ab.
Jetzt dauert es aber nicht lange und ich merke: Nope. Das geht nicht – so sehr ich es will. Irgendwie passen unsere Zungen nicht zueinander. Der Rhythmus, der Geschmack, irgendwas stimmt einfach nicht.
Das Gefühl hatte ich auch schon bei Männern und bislang hat es sich immer bewahrheitet, dass das auch auf Dauer und mit Übung nicht besser wurde. Wie ist das bei euch so? Glaubt ihr, dass es auch nach einem «schlechten» ersten Kuss mit der Zeit besser werden kann?
Ich war schon in sehr innig vertrauten Beziehungen, bei denen auch der Sex toll war – aber das Küssen war es nicht und wurde es auch nie. Wir küssten uns also kaum oder wenn, dann nicht so, wie ich es wirklich geil fand. (Glaubt mir, ich habe versucht, meine Wünsche zu äussern. Erfolglos. Manchmal passt es halt einfach nicht.) So etwas will ich nicht mehr. Das Küssen fehlte mir nämlich schon sehr! Ich finde es super als Vorspiel und zwischendurch, während, nachher und überhaupt.
Zurück zu June und unserem wenig geglückten Geknutsche.
Ob es ihr wohl ähnlich geht?
Wir lösen uns voneinander und wenden uns wieder ihren Büchern zu. Ich ziehe einen Gedichtband von Erich Fried aus dem Regal und lese:
Und dich einatmen wollen
immer nur einatmen wollen
tiefer tiefer
und ohne Ausatmen trinken
Aber zwischendurch Abstand suchen
um dich sehen zu können
aus ein zwei Handbreit Entfernung
und dann dich weiterküssen
... hach, wie schön das wäre. Mit June wird das aber nicht der Fall sein.
Ich bin erleichtert, dass wir den Rest des Abends gemütlich ausklingen lassen können; ohne zu küssen, aber Schulter an Schulter auf ihrem Sofa sitzend und über Gott und die Welt redend. Erstaunlicherweise, ohne dass es awkward ist! Beim Tschüss sagen, umarmen wir uns gewohnt innig. Dann schaut sie mich aus ihren blauen Augen an und fragt oder stellt viel mehr fest:
Mir fällt ein Stein vom Herzen. «Nein, nicht wirklich ... ist das okay für dich?», erwidere ich ein wenig betreten. «Kein Problem, mir geht es wie dir! Das gibt es halt manchmal. Ich finde dich trotzdem super», so June. Aaah, ich bin so froh! Gerade auch, weil ich neu in Zürich bin, und natürlich, weil ich June sehr mag und hoffe, dass wir gut «nur» Freundinnen sein können – wenn sie das denn auch will.
Süsse und doch ein bisschen ernüchterte Grüsse,