Er kam zur Welt und wusste: Sie ist meine Bühne. Nein, ganz so einfach war es natürlich nicht. Ryan Gosling wird 1980 in eine kanadische Mormonen-Gemeinde hineingeboren. Sein Vater, der später von der Mutter als «religiöser Eiferer» bezeichnet wird, ist Handlungsreisender für eine Papiermühle und lebt nach den striktesten Regeln: Mässigung geht über alles, täglich wird gebetet, es gibt weder Alkohol noch Kaffee oder schwarzen Tee, einmal im Monat wird gefastet, Fleisch steht selten auf dem Speiseplan, überhaupt ist alles Fleischliche tabu.
Ryan begehrt gegen all dies auf: Er leidet unter ADHS, er hasst Kinderspiele, überhaupt Kindsein, er hasst die Schule, prügelt sich gern und stürzt sich auf jeden Happen Wissen, der mit dem verbotenen Thema Sexualität zu tun hat. Und er redet darüber. Er ist dermassen mitteilsam, dass ihn seine Mutter mit zehn aus der Schule nimmt und zuhause unterrichtet. Seine Zuflucht ist die Bühne, tanzen, singen, den Clown spielen, er gewinnt damit zuerst eine kanadische Talentshow und dann ein Casting für den «Mickey Mouse Club» von Disney in Florida. Ryan ist der erste Kanadier, der das schafft.
Er bespasst dort zusammen mit Justin Timberlake, Christina Aguileira und Britney Spears Kinder mit Sketchen und Musiknummern, ab und zu kommen Stargäste vorbei, und Ryan und Justin sehen aus, als müssten sie direkt in eine Boyband hineinwachsen, was Justin 1995 mit *NSYNC auch tut. Bald hagelt es Beschwerden, Ryan versteht sich als Aufklärer der Truppe und blufft mit seinem angeblich fundierten Wissen über Sex. Britney habe viel von ihm gelernt, sagte er später, und er fühle sich für ihre hypersexualisierte Selbstinszenierung verantwortlich.
Alle anderen Mickey-Mäuse und ihre Eltern können sich ein Haus leisten, Bryan und seine Mutter leben im Wohnwagen im Trailerpark, zuhause in Kanada steht die Scheidung der Eltern bevor, und als Ryans Mama nach Kanada zurückmuss, wird die Mutter von Justin Timberlake vorübergehend zu Ryans Erziehungsberechtigter. Sie macht offensichtlich einen guten Job, Ryan verlässt den «Mickey Mouse Club» 1994 in stabiler Verfassung, er habe sein ADHS dort in den Griff gekriegt, sagt er, er war da eine Rampensau unter vielen und konnte sich endlich auf etwas fokussieren, was er liebte.
Als er 1994 nach Kanada zurückkehrt, geht es einfach weiter, er wird TV-Schauspieler, und mit 17 fliegt er für zwei Jahre nach Neuseeland, wo er 50 Folgen lang den Titelhelden der historischen Jugendserie «Young Hercules» spielt. Und 50 Folgen lang aussieht wie der Star der Boyband von nebenan. Mit den Mormonen und ihrer Lehre hat er seit vielen Jahren nichts mehr zu tun, doch er sieht, dass seine Mutter und seine Schwester glückliche Gemeindemitglieder sind, und respektiert das.
Ryan ist gerade der Ken schlechthin, es sieht aus, als hätte er die ganze Disney-Witzeschule und seine verschärfte Musical-Auffrischung für «La La Land» nur für die Rolle in «Barbie» absolviert, als wäre alles Vorsehung gewesen. Seine dritte Oscarnomination ist absehbar, gewinnen wird er nicht, das wird wohl Cilian Murphy als Oppenheimer, doch das ist egal, der Erfolg von «Barbie» kratzt bereits jetzt an den Sternen und Ryan Gosling ist als blöde, blonde Beach-Bombe, die das Patriarchat entdeckt, doch zu faul dafür ist, der komische Kern des Ganzen. Die Kenergy.
Ryan ist also ein echter Ken, ein Kevin war er zum Glück nie. Trotz der Kinderkarriere nimmt er keinen Schaden wie Macauly Culkin, im Gegenteil, er wird mühelos erwachsen, mit zwanzig spielt er in «The Believer» einen jüdischen Jungen, der zum Ku-Klux-Klan-Mitglied mutiert, plötzlich nimmt man ihn ernst, plötzlich ist er ein «Künstler», ein Jahr später spielt er mit Sandra Bullock in «Murder By Numbers», die beiden werden kurz ein Paar.
2004 wird er mit «The Notebook» von Nick Cassavetes zum romantischen Superstar – er und seine Filmliebe Rachel McAdams, die er beim Dreh nicht ausstehen kann, verlieben sich zwei Jahre später. Mit 27 folgt die erste Oscarnomination für «Half Nelson», mit 37 die zweite für «La La Land» von Damien Chazelle und zugleich die Hauptrolle in «Blade Runner 2049» von Denis Villeneuve. Dazwischen liegen Filme wie «Lars and the Real Girl», «Blue Valentine», «Drive», «The Ides of March», «The Big Short», und 2018 schickt ihn Chazelle in «First Man» als Neil Armstrong zum Mond.
Doch im Mai 2014 sitzt er vor mir, in einer abgedunkelten Hotellounge irgendwo in Cannes, draussen ist es plötzlich sehr heiss geworden, ich habe vor dem Hotel mein letztes Blasenpflaster einem von seinen Sandalen geplagten französischen Mädchen geschenkt. Drinnen sitzt dieser enorm freundliche, enorm entspannte Mann, sein Gesicht hat einen selbstironischen Grundausdruck, je mehr er arbeitet, desto entspannter scheint er zu sein. Gerade hat er seine grösste Arbeit abgeliefert, hat seinen ersten Film als Regisseur zu Ende gedreht und kämpft damit am Filmfestival von Cannes um zwei Preise ausserhalb des Hauptwettbewerbs. Zwei Dokumentarfilme über Krisenregionen dieser Welt hat er bereits zu drehen versucht, er ist mit beiden gescheitert, er fand sie selbst ganz einfach zu schlecht, um sie jemandem zu zeigen.
Auf «Lost River» dagegen, für den er auch das Drehbuch geschrieben hat, ist er stolz. «Lost River» mit Matt Smith, Saoirse Ronan, Christina Hendricks und Goslings Gattin Eva Mendes ist ein irisierender Fiebertraum. Gosling erzählt die Geschichte einer verlassenen Kleinstadt, deren Restbewohner entweder unglückliche Kinder oder Psychopathen sind oder in einem Fetisch-Club mit sehr viel Kunstblut arbeiten. Die amerikanische Immobilienkrise trifft da auf morbide Endzeit-Visionen.
Ästhetisch steht «Lost River» unverkennbar unter dem Einfluss von David Lynch und Nicolas Winding Refn, mit dem Gosling «Drive» gedreht hat. Der Film bietet nicht das übelste Kinovergnügen und das verhältnismässig kleine Budget von zwei Millionen Dollar grenzt bei all der fantastischen Opulenz, die da aufgefahren wird, an ein Wunder. Die Kritik hasst «Lost River». «Übertrieben ausschweifend, konturenlos, oft fantastisch und unbedacht anstössig und durchgehend unerträglich selbstverliebt», schreibt der «Guardian». Er wird weltweit nicht mehr als 600'000 Dollar einspielen. Ein Superflop.
Doch das weiss Ryan Gosling an diesem Tag in Cannes noch nicht, noch hofft er, schliesslich gehört seine Regiearbeit zu den meisterwarteten des Festivals. Alles ist möglich. Auch, dass Gosling zum neuen David Lynch ausgerufen wird. «Früher hielt ich Filmemacher für Zauberer», sagt er, «dabei arbeiten sie bloss besonders hart. Am härtesten. Und sie sind beharrlich. Sie haben eine Vision und beharren darauf, allem zum Trotz. Ich habe drei Jahre an meinem Film gearbeitet, ich bin mit ihm zusammengewachsen, an einer Rolle arbeite ich höchstens sechs Monate.»
Überall sieht und spürt er Energien. Grundsätzlich am Festival. Aber auch zwischen Matt Smith, der «Lost River» während einer «Doctor Who»-Pause gedreht hat, und seiner Rolle: «Normalerweise kommandiert er Universen, jetzt eine verlorene Stadt, da entsteht eine Energie.»
Hat er Ideen für neue Filme? «Ja!» (Er hat bis heute keine weitere verwirklicht.) Hat er noch Zeit für seine Band? «Nein.» Er hat sie schon länger nicht mehr. Leider, leider, leider. Sie hiess Dead Man's Bones, Gosling hatte sie zusammen mit dem Filmproduzenten Zach Shields gegründet, beide spielten viele Instrumente und sangen, doch der Clou war, dass sie wechselnde Kinderchöre beschäftigten, für die sie makabre musikalische Kindermärchen schrieben.
Ziel war – natürlich – ein Musical, es wurden dann eher Auftritte an Festivals und in Altersheimen, doch die Band und ihre Chöre waren wahnsinnig beliebt und spielten Geld für den Musikunterricht benachteiligter Kinder ein. Ein absolut wunderbares Herzensprojekt. Amerika war sich einig, dass der Mann, der selbst nicht gerne Kind gewesen war, der coolste Grundschul-Musiklehrer aller Zeiten wäre.
Wenige Monate nach Cannes, im September 2014, bringt Eva Mendes die erste Tochter zur Welt, im April 2016 die zweite, ihre Rolle in «Lost River» ist bis heute die letzte, sie will erstens Mutter sein und zweitens vieles, was sie früher gespielt hat, nicht mehr spielen, solange die Kinder Kinder sind. Keine Gewalt, keinen Sex, «da bleibt nur Disney», sagt sie, das würde sie machen. Sie betreibt ein kleines Business – für Küchenschwämme.
Mendes und Gosling gehören zu den privatesten Paaren in Hollywood, seit 2011, seit dem Dreh von «The Place Beyond the Pines», sind sie ein Paar, irgendwann haben sie geheiratet, natürlich geheim. Es gibt keine gemeinsamen roten Teppiche, keine Bilder aus dem Alltag, aber tausend verbale Liebeserklärungen in Talkshows oder auf Instagram.
«Mi hombre, mi vida, mi amor ...RG», schreibt Eva unter ein Ken-Foto. «Es ist, als würde ich jeden Tag durch einen Blumengarten wandeln, ich lebe mit Engeln», sagt er über seinen Haushalt mit drei Frauen. Und mit wem telefoniert er am liebsten? «Mit meiner Schwiegermutter, sie ist wunderbar.» Eva beantwortet die Frage, ob sie und Ryan kochen können mit: «Ryan ist ein unglaublicher Koch und Bäcker. Wirklich. Unfassbar, kein Scherz. Ich weiss nicht, ob man das, was ich mache, als Kochen bezeichnen kann, aber er ist ein Koch.» Okay, kochen kann er also auch noch.
Und wildfremden Frauen das Leben retten! 2012 rannte nämlich die britische Publizistin und Feministin Laurie Penny – «ich bin eine gehende Katastrophe» – in New York beinahe in ein fahrendes Taxi. Und wer hielt sie zurück? «Ich wurde buchstäblich, buchstäblich gerade von Ryan Gosling vor einem Auto gerettet!», twitterte sie, vom «Befeuchter von Millionen von Fans».
Und dann ist da noch die Anekdote von den Oscars 2007. Gosling nahm Mutter und Schwester mit zur bisher wichtigsten Nacht seines Lebens. «Eine Freundin hatte meiner Mutter erzählt, dass eine Bienenstock-Frisur in dieser Saison das Grösste sei», erzählt er in der «Graham Norton Show», «doch das Gegenteil war der Fall, alle trugen ihre Haare sehr natürlich». Seine Mutter sass vor Rachel Weisz, die nichts sehen konnte, und «sank immer tiefer in ihren Sitz».
In einer kurzen Werbepause sagte Ryan zu Meryl Streep: «Könnten Sie meiner Mutter nicht sagen, dass Sie ihre Frisur mögen?» Streep wandte sich an die Mutter: «Wissen Sie was? Ich wollte mir für heute auch einen Bienenkorb machen! Jetzt bereue ich, dass ich es nicht getan habe!» Eine glücklichere Mutter hatte Hollywood bis dahin noch nicht gesehen.
Daran, dass er Greta Gerwig schliesslich die Zusage für Ken gab, seien seine Töchter schuld, sagt er. Sie hätten nämlich ihre Ken-Puppe gesichtvoran draussen im Dreck liegen lassen. «Ich habe sie aufgehoben und wusste: Seine Geschichte muss erzählt werden.» Die Geschichte von Ken in «Barbie» ist die eines kindischen, kindlichen Mannes, der mit einem Schwimmring in den Kampf zieht und glaubt, dass der Begriff Patriarchat von Pferd komme. Keiner könnte sie so gut erzählen wie Ryan Gosling, der als Kind lieber ein Mann gewesen wäre und als Erwachsener einen so guten Draht zu Kindern behielt.
Barbie ist einerseits ein normaler Frauenfilm, in dem diese als starke Persönlichkeiten gezeigt werden - soweit, so normal - aber Ken bringt, wenn man genau hinhört, eine viel wichtigere Botschaft mit - für die vielerorts verunsicherten Männer dieser Zeit, welche sich in einer rasant ändernden Welt behaupten müssen.
Diese werden nämlich für ihre Fortschritte nicht gefeiert, was sehr schade ist.
Danke Ken!