Ich wollte eine. Und natürlich war sie das einzige Spielzeug, das mir meine Eltern so richtig verboten hatten. Die Barbie. Ich besass als Kind bloss Julia, eine Puppe mit einem betörenden Kindfrauenkopf, viel langem, glänzendem Haar und einem Babykörper. Julia war eine ganz und gar normale Puppe. Aber von ihrer Kopf-Körper-Kombination her betrachtet eine völlig perverse Konstruktion.
Barbie war auch pervers, aber anders. Barbie war eine erwachsene Frau mit einem Teenie-Gesicht, grossen Brüsten, einer unmöglichen Hüftstellung, viel zu langen dünnen Beinen und Füssen, die so gewachsen waren, dass sie einzig auf High Heels überhaupt gehen konnte. Trotzdem war Barbie realistischer als Julia, die bloss hilflos auf ihrem Babykörper mit lang bewimperten Augen klimpern konnte. Denn zu Barbie gehörten Fragmente einer erwachsenen Biografie. Barbie untergeordnet waren Häuser, Pferde, Autos, Boote, ein Ken, irgendwelche Freundinnen und enorm viele Kleider.
Manche Barbies hatten auch einen Job – der aber auch nichts war als eine Verkleidung von vielen, die man sich dazukaufen konnte. Barbies Hauptjob war der pinkglitzrige Kapitalismus. Und dies ganz ohne Abhängigkeiten. Barbie konnte, musste aber nicht heiraten – auch dies nichts als ein Kostüm – und Fortpflanzung war auch kein Thema. Barbie war ewig jung, singulär, gewissenlos, nimmermüde und konsumfreudig. War symbolischer Antrieb und Ausgeburt der Wirtschaftsmacht Amerika. Und entstand aus der Spiesserfrivolität des Wirtschaftswunderlandes Deutschland.
Irgendwann in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre stehen nämlich zwei Amerikanerinnen vor dem Schaufenster eines Trödelladens in Luzern. Die grosse Amerikanerin heisst Ruth Handler, ihr Vater arbeitet in Denver bei der Eisenbahn, die jüdische Familie ist vor den Nazis aus Polen geflohen. Mit ihrem Mann führt sie ein kleines Unternehmen für Bilderrahmen, Puppenhausmöbel und Spielzeuggewehre. Es heisst Mattel. Die kleine Amerikanerin ist Ruths 15-jährige Tochter Barbara.
Zusammen entdecken die beiden in dem Luzerner Schaufenster sechs identische kleine Plastikpuppen in Skimode mit einem blonden Pferdeschwanz, riesigen aufgemalten Augen, einem Kussmündchen, winzigen Füssen, die mit schwarzen High Heels verwachsen sind, und markanten Brüsten.
Barbara ist begeistert: Endlich fühlt sie sich von einem Spielzeug ernst genommen. Endlich sieht eine Puppe mal so aus, wie ihr das Hollywood immer vorgaukelt. So sexy wie Marilyn Monroe. Oder wie die Französin Brigitte Bardot. So, wie Barbara werden möchte. So, wie Medien und Filmindustrie Barbara vorgaukeln, dass sie zu werden habe. Monroe, Bardot und Co. sind die Kardashians von vorgestern. Ruth Handler erkennt die Marktlücke.
Was die beiden nicht realisieren (oder realisieren wollen), ist, dass sie auf eine pornografische Fantasie hereinfallen. Denn die sechs Puppen sind allesamt «Bild»-Lillis. Gadgets der «Bild»-Zeitung für den Mann von Welt, entstanden aufgrund eines 1952 lancierten Comic-Strips in der «Bild» mit den Abenteuern der kessen Lilli, die nichts anderes tut, als aufreizend und schlagfertig von der Männerwelt zu profitieren. Lilli ist ein 3D-Pin-up, man kann sie sich auf einen Ständer gespiesst auf den Schreibtisch stellen oder auf einer Schaukel schwebend ins Auto hängen.
1953, im gleichen Jahr, als Hugh Hefner in Amerika den «Playboy» mit Marilyn Monroe als erstem Covergirl auf den Markt brachte, wurde in Deutschland die Lilli-Puppe mit vielerlei Garderoben geboren. Lilli entsprach mit ihrem Lebenswandel – ein neuer Tag, ein neuer Mann – dem von Hefner propagierten «Playmate». Der Gefährtin des Playboys, eines Mannes, der nur spielen will und keine Familienpläne hat. Wie der Playboy wusste auch Lilli über gute Getränke, Musik und schönes Design Bescheid.
Die amerikanische Spielzeugindustrie hat damals ein hoffnungslos übersexualisiertes Angebot: Es gibt Perücken, mit denen Mädchen mehr wie Frauen wirken und Cocktailparty spielen sollen, und Plastik-High-Heels mit Glitzer. Es dauert nur noch wenige Jahre bis zu den ersten Schönheitswettbewerben für Kinder.
1955 ist Vladimir Nabokovs Skandalroman «Lolita» erschienen: Ein Vierzigjähriger verliebt sich in eine Zwölfjährige, ermordet ihre Mutter, entführt und missbraucht die Tochter. In der Verfilmung von Stanley Kubrick wird Lolita 1962 vorsichtshalber in eine Vierzehnjährige verwandelt.
In dieses Klima hinein platzt 1959 Barbie. Oder mit vollem Namen Barbara Millicent Roberts. Den Vornamen hat sie von Barbara Handler. Und wie lautet der Name von Barbara Handlers Bruder? Ken natürlich. Die erste Barbie sieht aus wie die Zwillingsschwester von Lilli, nur züchtiger angezogen und mit einem komplett leeren Blick. Er ist Absicht. Ruth Handler will, dass Barbie kein erotisches «Subjekt» wie Lilli mit ihren Comicstrip-Geschichten ist, sondern nichts als purste Projektionsfläche für Abertausende von Mädchenträumen.
300'000 – übrigens in Japan hergestellte – Barbies werden 1959 verkauft, leisten können sie sich allerdings nur begüterte Eltern, weshalb sich Barbies Mode auch an diesen orientiert. Jackie Kennedy wird eine frühe modische Barbie-Inspiration. Jackies Kostüme über Marilyns in die Länge gezogenen Körper quasi. John F. Kennedy, der beide Frauen liebte, muss seine allerfeuchtesten Träume erfüllt gesehen haben.
Barbies Biografie ist über die Jahrzehnte höchst wechselhaft: Grundsätzlich ist sie 19 Jahre alt, gelegentlich minimal älter, und ganz sicher ist sie höchstbegabt, denn sie besitzt immer wieder andere Doktortitel und kandidiert mehrfach für die amerikanische Präsidentschaft. Je nach Verkaufsregion gibt es ethnisch angepasste Barbies und immer wieder Spezialeditionen mit sogenannt inspirierenden Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart.
Modisch ist sie derart en vogue, dass ihr ab und zu Fashion-Preise verliehen werden. Lagerfeld, Louboutin und Moschino arbeiten für sie – kein Model kann so perfekt sein wie Barbie. «Die Puppe verkauft Mode und Mode verkauft die Puppe», sagt Ruth Handler einmal. Paris Hilton inszeniert sich viele Jahre lang als Lebendbarbie. Durchgeknallte Influencerinnen opfern sich auf dem Altar der operativen Barbiefikation. Dubai steht total auf Barbie.
@bufocalvin Ryan Gosling as Ken
— Atiqueteimporta (@Atiquetimporta7) July 7, 2022
Margot Robbie as Barbie in the movie 'Barbie'
They're seriously going to film this shit! 🤔🤔🤔🤔 pic.twitter.com/LZtT9NRyox
Die Körpermasse sind Verhandlungssache – ausgerechnet der sechste Mann von Zsa Zsa Gabor, deren spitzbrüstige Weltraum-Amazonen in den 50ern einiges zur Gestaltung der Barbie beigetragen hatten, verringerte als erster den Brust- und erweiterte den Taillenumfang. Unnatürlich dünn ist Barbie heute immer noch, aber sie scheint weitgehend implantatfrei zu leben. Mattel bezeichnet Barbie als «die diverseste Puppe der Welt», sie trägt jetzt noch lieber Regenbogenfarben als früher.
Barbie ist jetzt 63 Jahre alt und war selten so präsent wie jetzt. Denn dass Margot Robbie und Ryan Gosling aktuell als Barbie und Ken bei der Arbeit sind, sorgt unter den Celebrities für eine Welle der pinken Begeisterung. Die Welle hat auch schon einen Namen: Barbiecore.
florence pugh, anna wintour, ariana debose, hwasa and anne hathaway at the valentino show in rome pic.twitter.com/aZAPn8w5TD
— Florence Pugh Daily (@bestofpugh) July 10, 2022
Ein Kreis schliesst sich: Menschen aus einer Schicht mit Einfluss, die früher einmal für das Erscheinungsbild von Barbie mitverantwortlich war, verkleiden sich heute als Barbie. Plastic Fantastic schlägt zurück.
Was vom Film unter der Regie von Greta Gerwig («Ladybird», «Little Women») zu erwarten sein wird, weiss noch immer niemand. Sicher was Wilderes und Amüsanteres als Barbie und ihre Universen (darunter auch das animationsfilmische) bisher geboten haben. Eine Mischung aus Robbie-Rollen wie Harley Quinn, Tonya Harding und der Wölfin aus der Wall Street vielleicht?
Die Mode wird auf jeden Fall absurd und Ryan Gosling der albernste Ken aller bisherigen Zeiten. Körperbildgefährdend dürfte der Film, der in genau einem Jahr ins Kino kommt, nicht werden. Wo Gerwig draufsteht, ist ausreichend Feminismus drin. Normalerweise jedenfalls. Aber was war an Barbie schon jemals normal?
Life in plastic, it’s fantastic
You can brush my hair, undress me everywhere
Imagination, life is your creation"
Den bringst du jetzt nicht mehr raus.