Ich habe «Love Actually» (deutsch: «Tatsächlich… Liebe») zum ersten Mal im Sommer 2004 auf einer gebrannten DVD geschaut und am nächsten Tag gleich nochmal. Ich war 15 Jahre alt und hatte damals noch keine Ahnung von meinem Soft-Spot für romantische Comedy.
Was ich sagen will: Dieser Film kann emotional überwältigend sein. RomCom-Profi Richard Curtis («Vier Hochzeiten und ein Todesfall») steuert präzise jene Areale im Gehirn an, die diese wohlig-warmen Wellen im Magen auslösen. Dagegen kann man sich kaum wehren.
Aber «Love Actually» setzte in den letzten 20 Jahren Staub an. Er hat dasselbe Problem wie fast alle RomComs, die vor 2016 erschienen sind: Er romantisiert in seinen insgesamt neun Handlungssträngen Vorgänge, die heute teilweise strafrechtlich relevant wären. «Love Actually» im Jahr 2024 zu schauen, bedeutet deshalb in vielen Szenen: Augen zu und ganz schnell durch.
Hier ist mein persönliches Peinlichkeits-Ranking der «Love Actually»-Storys.
Der Alt-Rockstar Billie Mack (Bill Nighy) gesteht seinem Manager Joe (Gregor Fisher) in einem süssen Moment: Er ist die Liebe seines Lebens. Die beiden umarmen sich am Weihnachtsabend ultimativ maskulin (gewaltsames Klopfen auf den Rücken), dennoch kann man an dieser echten Männerfreundschaftliebe nichts falsch finden.
Cringe-Faktor: 0 von 10
Harry (Alan Rickman) verleiht seiner etwas eingerosteten Ehe per CD-Geschenk einen Stich ins Herz. Die teure Kette vom Juwelier kriegt die attraktive Mitarbeiterin. Ehefrau Karen (Emma Thompson) erstarrt derweil beim Anblick ihres schnöden Joni-Mitchell-Albums minutenlang zu einer einsam weinenden Salzsäule. Der perfekte Schmerzmoment.
Einziger Kritikpunkt: Heike Makatsch als lüsternes Fremdgeh-Objekt, das über die scheinbar unstillbare Lust aufs Ehezerstören hinaus keine Charaktereigenschaften entwickelt.
Cringe-Faktor: 1 von 10
Laura Linneys Figur Sara ist seit Jahren unglücklich verschossen in ihren attraktiven Kollegen (Rodrigo Santoro). Bei einer Weihnachtsfeier funkt es, aber der sich anbahnende Sex wird mehrfach unterbrochen von den Anrufen des geistig beeinträchtigten Bruders. Das soll wohl eine andere, aufopfernde Form der Lieben abbilden. Okay, keine Einwände. Man fragt sich nur, warum Liebesbeziehungen und Care-Arbeit einander derart kategorisch ausschliessen müssen.
Cringe-Faktor: 1 von 10
Die Liebesgeschichte der Licht-Doubles John und Judy ist viel zu klamaukig, um auch nur irgendeine Form der Romantik zu entwickeln. Und der Witz mit den mechanischen Schattensex-Bewegungen hat sich schon nach der ersten Szene verbraucht.
Cringe-Faktor: 3 von 10, weil dieser Handlungsstrang einfach jedes Mal nervt.
Der Plot von Vater (Liam Neeson) und Stiefsohn (Thomas Brodie Sangster), die die Trauer über die verstorbene Mutter mit der Verführung des Schulschwarms verarbeiteten, ist extrem hohl und schmalzig, aber auch relativ unschuldig. Geschmackssache.
Strafpunkte für die abgeschmackte Fridging-Trope, bei der Frauen als Motivationsbenzin für männliche Hauptfiguren am Anfang des Films halt mal kurz sterben müssen, gibt es trotzdem.
Cringe-Faktor: 4 von 10
Colin hat in UK kein Glück mit den verklemmten Frauen und strebt deshalb in Richtung der USA, das Land der Supermodels und Hollywood-Schönheiten. Die Incel-Fantasie verwirklicht sich, Colin ist in eine Porno-Parallelwelt gestolpert.
Das alles ist derart offensichtlich überzeichnet, dass es eigentlich ausser Wertung laufen müsste. Andererseits: Warum wird die Ironie nicht gebrochen? So steht am Ende nur ein Ergebnis: Colin und sein plumpes Frauenbild werden mit einem Harem belohnt.
Cringe-Faktor: 6 von 10
Vermutlich will diese Story das Konzept einer Liebe vermitteln, die vollständig ohne verbale Verständigung auskommt. Pure Vibes überwinden die Sprachbarriere (und Abhängigkeitsverhältnisse) zwischen Schriftsteller (männlich, älter, britisch) und Haushaltshilfe (weiblich, jünger, portugiesisch). All das toppt der Film mit seiner unfassbaren Schlüsselszene.
Colin Firth als Jamie verliebt sich in dem Moment in Aurelia (Lúcia Moniz), als die sich bis auf die Unterwäsche auszieht, um sein Manuskript aus dem See zu retten. Die Szene läuft in Zeitlupe ab. Die Kamera zoomt auf das Steissbein-Tattoo von Aurelia. Und der Blick des Schriftstellers wird leer und beseelt. Das ist einfach dreist.
Cringe-Faktor: 8 von 10
Diese Szene hat vermutlich einer ganzen Generation vermittelt, es sei süss und romantisch, an Heiligabend die Frau des besten Freundes mit lustigen Textkarten in eine Liebesbeziehung zu manipulieren, die ausschliesslich im Gehirn des besagten besten Freundes (und des Filmautors) Sinn ergibt.
Sicher, in RomComs gelten andere Regeln. Ja, es gibt so etwas wie eine romantische Magie, die in Filmen ganz bewusst sozial akzeptierte Muster ausser Kraft setzt und mit Fantasien austauscht, die in der Realität nie Bestand haben würden.
Deswegen schaut man solche Stoffe letztlich. Aber man kann es damit halt auch übertreiben. Zum Beispiel, indem man Keira Knightleys Figur den Drang in den Kopf schreibt, dem besten Freund für einen Abschiedskuss hinterherzueilen, der genau wem helfen soll?
Dieser Handlungsstrang gehört nach allen nüchternen Gesichtspunkten hinter Gittern.
Cringe-Faktor: 9 von 10
Fünf Momente, die «Tatsächlich ... Liebe» in dieser Story wirklich als vollkommen vernünftig und romantisch hinstellt:
Cringe-Faktor: 10 von 10