Samira und Gian flirteten an einer Party und hatten danach Sex. Dabei wollte Samira gar nicht. Das sagte sie aber nicht, weil sie dachte, Gian spüre das schon. Sie hielt ihre Signale für deutlich genug. Bei Gian kamen sie nicht an. Und jetzt? Jetzt ist der Tag danach, und die Nacht ist bereits die «Letzte Nacht», wie der 15-minütige Kurzfilm heisst, der die Tragödie von nicht einvernehmlichem Sex zwischen zweien, die sich schon länger kennen, verhandelt. Denn Samira und Gian gehören zu zwei eng miteinander verbundenen Cliquen.
Am Abend nach der Party trifft sich die Mädchenclique zu Weisswein und die Jungsclique zu Bier, und Samira erzählt, dass da was war mit Gian, mehr will sie gar nicht erzählen, sie möchte zuerst selbst mit der unangenehmen Erfahrung zurechtkommen. Doch ihre Freundinnen lassen keine Ruhe, und eine Situation, die nichts als Mitgefühl verlangt, gerät aus dem Ruder und wird zum Verhör, und eine whatsappt es den Jungs und die nehmen ihrerseits Gian in die Zange, der die Nacht auch nicht so gut fand, weil er genau merkte, dass Samira nicht kam.
Am Ende haben die Mädchen Samira und die Jungs Gian mit ihrer Neugier, ihrer Selbstgerechtigkeit und ihren zunehmenden Vorwürfen regelrecht zerstört. Und der verunglückte Paarungsversuch hinterlässt zwei todunglückliche junge Leute.
«Letzte Nacht» ist ein kluger kleiner Film über kommunikatives Versagen. Zwischen zweien, zwischen mehreren. Er zeigt schmerzlich genau, wie falsch herbeigezwungenes Reden über die intimsten Erfahrungen von anderen gelegentlich sein kann. Und dass man sich wirklich nicht darauf verlassen kann, dass der Mensch, mit dem man gerade besoffen im Bett liegt, die Signale, die man auszusenden glaubt, tatsächlich wahrnimmt. Denn der Fall von Samira und Gian ist sowas wie die alltäglichste Form eines sexuellen Missverständnisses, der One-Night-Stand im Freundeskreis, den man am Ende gar nicht gewollt hat, jede Wohngemeinschaft dürfte die Gespräche, die sich darüber ergeben, mehrfach kennen.
Die Regisseurin von «Letzte Nacht» (hier gehts zum Trailer) ist eine von uns. Beziehungsweise war eine von uns. Lea Bloch, ehemalige watson-Videoredaktorin mit Themen wie Gen Z, Eifersucht, sexuelle Übergriffe und vielen Beiträgen zu ukrainischen Geflüchteten. Leider ist sie inzwischen weitergewandert und Produzentin bei SRF geworden. Ich erwische sie an einem Morgen in Locarno, in der Beiz, die zu ihrem Hotel gehört, ist sie die Einzige, die beim Kaffee sitzt, alle anderen sind ältere Tessiner, für die der Tag bei einem Merlot beginnt und mit Grappa endet.
«Unsere» Lea wirkt enorm glücklich verstrahlt, ihr Film ist im nationalen Kurzfilmwettbewerb gelandet und damit auf der besten Plattform, die man sich in der Schweiz für einen Kurzfilm wünschen kann, 900 Leute schauten die Premierenvorstellung am Montag, Lea wird hier als Künstlerin betrachtet und ernst genommen, sie ist über Nacht in ein neues Leben hineinkatapultiert worden. Allerdings sei es ihrer früheren Existenz als Journalistin nicht unähnlich: «Weil es ein so selbstdefinierter Job ist. Du kriegst ja nicht irgendwann ein Diplom, auf dem steht, so, jetzt bist du Journalistin oder Filmemacherin. Du musst dich erst einmal etablieren und dich getrauen, dir selbst diesen Titel zu geben, ohne dass es sich komisch anfühlt.» Jetzt fühlt es sich «megaspeziell» und «schön» an, sie ist erleichtert und geniesst.
Die Idee zu «Letzte Nacht» kam ihr vor drei Jahren, sie kannte Geschichten wie diese aus ihrer eigenen Jugendzeit, es sind leider Geschichten, die nur allzu häufig zum Erwachsenwerden junger Frauen gehören, «erlebter, nicht einvernehmlicher Sex und wie die engsten Freundinnen darauf reagieren». Nämlich nicht selten falsch.
«Zwischen 16 und 18 führten wir im Gymi unzählige solcher Gespräche wie im Film, immer war eine andere in der Position, die sowas erlebt hatte, die Erfahrung rotierte unter uns. Und im Nachhinein realisierten wir, dass viele von uns nicht immer korrekt reagiert hatten. Dass wir die falschen Fragen stellten, unsensibel waren und schon fast in Richtung Victim Blaming gingen. Wir waren halt jung und wollten unbedingt verstehen. Ich weiss nicht, ob es bei diesem Thema richtige Reaktionen gibt, aber ganz gewiss empathischere.» Ja, die gibt es gewiss. Zuhören, mitfühlen, in den Arm nehmen, einfach ein Gegenüber bieten, aber keines, das zusätzlich verunsichert.
Zuerst redete Lea mit ihren Freundinnen. Dann mit ihren Freunden. Sie wollte herausfinden, wie die Gegenseite sowas sieht. So entstand ein Konzept. Sie wurde beim Migros-Kulturprozent Story Lab vorstellig und erhielt etwas Geld für die Entwicklung, gedreht hat sie vor einem Jahr im Sommer, in ihrer Freizeit an Wochenenden, mit Laien und ohne festes Skript, hinter allen Dialogen steht zwar eine Anweisung von ihr, doch die kurzen Gesprächssequenzen unter den beiden Gruppen sind improvisiert. «Die Frauen waren im Schnitt 19, die Männer 22, ich war beim Dreh 26, also älter, und wollte den Jüngeren nicht meine eigene Sprache aufdrängen, ich wollte, dass sie authentisch für ihr Alter reden. Und für ihr Geschlecht. Ich hätte mir niemals anmassen wollen, den Männern fixe Dialoge aufzudrücken.»
Was sie ihnen allerdings aufgedrückt hat, war der Lauf der Geschichte, den Verhörcharakter der Dialoge, «oft gegen ihren Willen, wenn ich sie nicht gepusht hätte, wäre alles viel weicher und einfühlsamer geworden, nicht so aggressiv». Die Geschichte ging allen sehr nahe, einer der Schauspieler hatte gerade einen ähnlichen Vorfall im Freundeskreis, Lea machte sich Sorgen, ob ihre Schauspielerinnen schlimmstenfalls retraumatisiert werden könnten, wenn sie sowas schon erlebt hätten, die Frage, ob man eine psychologische Betreuung hinzuziehen sollte, stand im Raum, die Verantwortung war gross.
Lea begann ihre Filmkarriere vor zehn Jahren in der Teenie-Freundinnen-Komödie «Sitting Next to Zoe». Sie spielte da die türkische Freundin von Zoe. Die «Schweizer Illustrierte» titelte damals: «Lea Bloch: Kino-Star mit 18 Jahren».
Was ist daraus geworden? «Nichts!», sagt Lea, «ich habe gemerkt, dass ich lieber selbst die Geschichtenerzählerin und Visionärin bin, ich kann als Regisseurin viel mehr Kreativität einbringen.» Mit Unabhängigkeit hat das nichts zu tun, «unabhängig bist du beim Film nie, es ist ein krasses Teamwork, und die Angst vor jedem Dreh, dass jemand ausfallen und das ganze auseinanderfallen könnte, ist riesig.»
Und wo kann man «Letzte Nacht» ausserhalb von Locarno sehen? Vielleicht einmal als Vorfilm in einem Arthouse-Kino? Lea träumt «noch von ein paar Festivals, aber vor allem davon, dass ich den Film später an Schulen zeigen kann, da gehört er hin».
«Letzte Nacht» ist wahnsinnig «schön» gefilmt. Kamerafrau Natascha Vavrina wird es im Schweizer Film noch weit bringen, der Kurzfilm wirkt enorm hochwertig, strahlende Farben, eine Feinheit und genau die Wärme, die Samira von ihren Freundinnen so dringend nötig hätte. Die Bilder sind eine Umarmung. Von Samira und von Gian. Auch wenn die beiden am Ende von «Letzte Nacht» gerade alles Vertrauen verloren haben. In sich. Ineinander. Und in alle ihre Freundinnen und Freunde.
Der Bus hält auch nur, wenn ich als Passagier auf den Stop-Knopf drücke. Mache ich das nicht, kann ich an der Endstation dann auch nicht dem Chauffeur vorwerfen, er hätte meine "Signale ignoriert".
Bei mir ist's gerade umgekehrt, ich fühle keine Signale weshalb passiert nichts 😂
Interessantes Thema. Für mich bleibt es aber schwierig zu verstehen, warum man gerade bei Sex etwas macht, das man eigentlich nicht will. Im jugendlichen Alter hab ich ein gewisses Verständnis. Wäre aber schön, wenn man die Kinder so erzieht, dass sie auch in diesem Alter schon für sich einstehen und Nein sagen können. Eigentlich gehörten auch Gian und Co. erzogen bei Unsicherheit aufzuhören. Aber eben, Signale versteht man oft nicht.