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Filmfestival Locarno

Filmfestival Locarno: Nicht einvernehmlicher Sex führt zum Desaster

Kurzfilm «Letzte Nacht» von Lea Bloch
Statt zu einer Welle von Mitgefühl kommt es zum Verhör: Szene aus «Letzte Nacht».Bild: Locarno Film Festival
Filmfestival Locarno

Nicht einvernehmlicher Sex führt zur Kommunikations-Katastrophe

Die ehemalige watson-Redaktorin Lea Bloch kämpft in Locarno mit einem sensiblen Thema um einen Filmpreis. Dahinter stecken viele persönliche Geschichten.
10.08.2023, 09:2410.08.2023, 10:08
Simone Meier
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Samira und Gian flirteten an einer Party und hatten danach Sex. Dabei wollte Samira gar nicht. Das sagte sie aber nicht, weil sie dachte, Gian spüre das schon. Sie hielt ihre Signale für deutlich genug. Bei Gian kamen sie nicht an. Und jetzt? Jetzt ist der Tag danach, und die Nacht ist bereits die «Letzte Nacht», wie der 15-minütige Kurzfilm heisst, der die Tragödie von nicht einvernehmlichem Sex zwischen zweien, die sich schon länger kennen, verhandelt. Denn Samira und Gian gehören zu zwei eng miteinander verbundenen Cliquen.

Am Abend nach der Party trifft sich die Mädchenclique zu Weisswein und die Jungsclique zu Bier, und Samira erzählt, dass da was war mit Gian, mehr will sie gar nicht erzählen, sie möchte zuerst selbst mit der unangenehmen Erfahrung zurechtkommen. Doch ihre Freundinnen lassen keine Ruhe, und eine Situation, die nichts als Mitgefühl verlangt, gerät aus dem Ruder und wird zum Verhör, und eine whatsappt es den Jungs und die nehmen ihrerseits Gian in die Zange, der die Nacht auch nicht so gut fand, weil er genau merkte, dass Samira nicht kam.

Der One-Night-Stand im Freundeskreis

Am Ende haben die Mädchen Samira und die Jungs Gian mit ihrer Neugier, ihrer Selbstgerechtigkeit und ihren zunehmenden Vorwürfen regelrecht zerstört. Und der verunglückte Paarungsversuch hinterlässt zwei todunglückliche junge Leute.

«Letzte Nacht», Kurzfilm von Lea Bloch
Wenn dein Film in Locarno im Wettbewerb ist, bist du im Business angekommen.Bild: Locarno Film Festival

«Letzte Nacht» ist ein kluger kleiner Film über kommunikatives Versagen. Zwischen zweien, zwischen mehreren. Er zeigt schmerzlich genau, wie falsch herbeigezwungenes Reden über die intimsten Erfahrungen von anderen gelegentlich sein kann. Und dass man sich wirklich nicht darauf verlassen kann, dass der Mensch, mit dem man gerade besoffen im Bett liegt, die Signale, die man auszusenden glaubt, tatsächlich wahrnimmt. Denn der Fall von Samira und Gian ist sowas wie die alltäglichste Form eines sexuellen Missverständnisses, der One-Night-Stand im Freundeskreis, den man am Ende gar nicht gewollt hat, jede Wohngemeinschaft dürfte die Gespräche, die sich darüber ergeben, mehrfach kennen.

Lea Bloch, eine von uns

Die Regisseurin von «Letzte Nacht» (hier gehts zum Trailer) ist eine von uns. Beziehungsweise war eine von uns. Lea Bloch, ehemalige watson-Videoredaktorin mit Themen wie Gen Z, Eifersucht, sexuelle Übergriffe und vielen Beiträgen zu ukrainischen Geflüchteten. Leider ist sie inzwischen weitergewandert und Produzentin bei SRF geworden. Ich erwische sie an einem Morgen in Locarno, in der Beiz, die zu ihrem Hotel gehört, ist sie die Einzige, die beim Kaffee sitzt, alle anderen sind ältere Tessiner, für die der Tag bei einem Merlot beginnt und mit Grappa endet.

Locarno76, Photocall, Letzte Nacht (PDD), in the presence of Natascha Vavrina, Zora Zlot, 7 August
Lea Bloch (rechts) und ihre Kamerafrau Natascha Vavrina in Locarno.Bild: Locarno Film Festival

«Unsere» Lea wirkt enorm glücklich verstrahlt, ihr Film ist im nationalen Kurzfilmwettbewerb gelandet und damit auf der besten Plattform, die man sich in der Schweiz für einen Kurzfilm wünschen kann, 900 Leute schauten die Premierenvorstellung am Montag, Lea wird hier als Künstlerin betrachtet und ernst genommen, sie ist über Nacht in ein neues Leben hineinkatapultiert worden. Allerdings sei es ihrer früheren Existenz als Journalistin nicht unähnlich: «Weil es ein so selbstdefinierter Job ist. Du kriegst ja nicht irgendwann ein Diplom, auf dem steht, so, jetzt bist du Journalistin oder Filmemacherin. Du musst dich erst einmal etablieren und dich getrauen, dir selbst diesen Titel zu geben, ohne dass es sich komisch anfühlt.» Jetzt fühlt es sich «megaspeziell» und «schön» an, sie ist erleichtert und geniesst.

Zu oft falsch reagiert

Die Idee zu «Letzte Nacht» kam ihr vor drei Jahren, sie kannte Geschichten wie diese aus ihrer eigenen Jugendzeit, es sind leider Geschichten, die nur allzu häufig zum Erwachsenwerden junger Frauen gehören, «erlebter, nicht einvernehmlicher Sex und wie die engsten Freundinnen darauf reagieren». Nämlich nicht selten falsch.

Kurzfilm «Letzte Nacht» von Lea Bloch
Wenn Gian Signale fühlen könnte, wäre nichts passiert. Szene aus «Letzte Nacht».Bild: Locarno Film Festival

«Zwischen 16 und 18 führten wir im Gymi unzählige solcher Gespräche wie im Film, immer war eine andere in der Position, die sowas erlebt hatte, die Erfahrung rotierte unter uns. Und im Nachhinein realisierten wir, dass viele von uns nicht immer korrekt reagiert hatten. Dass wir die falschen Fragen stellten, unsensibel waren und schon fast in Richtung Victim Blaming gingen. Wir waren halt jung und wollten unbedingt verstehen. Ich weiss nicht, ob es bei diesem Thema richtige Reaktionen gibt, aber ganz gewiss empathischere.» Ja, die gibt es gewiss. Zuhören, mitfühlen, in den Arm nehmen, einfach ein Gegenüber bieten, aber keines, das zusätzlich verunsichert.

Die Sprache der Jüngeren

Zuerst redete Lea mit ihren Freundinnen. Dann mit ihren Freunden. Sie wollte herausfinden, wie die Gegenseite sowas sieht. So entstand ein Konzept. Sie wurde beim Migros-Kulturprozent Story Lab vorstellig und erhielt etwas Geld für die Entwicklung, gedreht hat sie vor einem Jahr im Sommer, in ihrer Freizeit an Wochenenden, mit Laien und ohne festes Skript, hinter allen Dialogen steht zwar eine Anweisung von ihr, doch die kurzen Gesprächssequenzen unter den beiden Gruppen sind improvisiert. «Die Frauen waren im Schnitt 19, die Männer 22, ich war beim Dreh 26, also älter, und wollte den Jüngeren nicht meine eigene Sprache aufdrängen, ich wollte, dass sie authentisch für ihr Alter reden. Und für ihr Geschlecht. Ich hätte mir niemals anmassen wollen, den Männern fixe Dialoge aufzudrücken.»

Lea Bloch
Lea Bloch ohne Festivalmontur.Bild: Locarno Film Festival

Was sie ihnen allerdings aufgedrückt hat, war der Lauf der Geschichte, den Verhörcharakter der Dialoge, «oft gegen ihren Willen, wenn ich sie nicht gepusht hätte, wäre alles viel weicher und einfühlsamer geworden, nicht so aggressiv». Die Geschichte ging allen sehr nahe, einer der Schauspieler hatte gerade einen ähnlichen Vorfall im Freundeskreis, Lea machte sich Sorgen, ob ihre Schauspielerinnen schlimmstenfalls retraumatisiert werden könnten, wenn sie sowas schon erlebt hätten, die Frage, ob man eine psychologische Betreuung hinzuziehen sollte, stand im Raum, die Verantwortung war gross.

Der ganz andere Karrierestart

Lea begann ihre Filmkarriere vor zehn Jahren in der Teenie-Freundinnen-Komödie «Sitting Next to Zoe». Sie spielte da die türkische Freundin von Zoe. Die «Schweizer Illustrierte» titelte damals: «Lea Bloch: Kino-Star mit 18 Jahren».

Der Trailer von «Sitting Next to Zoe» mit Lea Bloch

Was ist daraus geworden? «Nichts!», sagt Lea, «ich habe gemerkt, dass ich lieber selbst die Geschichtenerzählerin und Visionärin bin, ich kann als Regisseurin viel mehr Kreativität einbringen.» Mit Unabhängigkeit hat das nichts zu tun, «unabhängig bist du beim Film nie, es ist ein krasses Teamwork, und die Angst vor jedem Dreh, dass jemand ausfallen und das ganze auseinanderfallen könnte, ist riesig.»

Und wo kann man «Letzte Nacht» ausserhalb von Locarno sehen? Vielleicht einmal als Vorfilm in einem Arthouse-Kino? Lea träumt «noch von ein paar Festivals, aber vor allem davon, dass ich den Film später an Schulen zeigen kann, da gehört er hin».

«Letzte Nacht» ist wahnsinnig «schön» gefilmt. Kamerafrau Natascha Vavrina wird es im Schweizer Film noch weit bringen, der Kurzfilm wirkt enorm hochwertig, strahlende Farben, eine Feinheit und genau die Wärme, die Samira von ihren Freundinnen so dringend nötig hätte. Die Bilder sind eine Umarmung. Von Samira und von Gian. Auch wenn die beiden am Ende von «Letzte Nacht» gerade alles Vertrauen verloren haben. In sich. Ineinander. Und in alle ihre Freundinnen und Freunde.

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132 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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pragmat
10.08.2023 11:38registriert April 2023
Man stelle sich vor, Samira hätte in dem Moment einfach zu Gian gesagt "Hey, ich möchte das nicht, lass uns aufhören". Dann wären die ganzen Diskussionen im Nachhinein überfällig und der Verdacht läge auch nicht in der Luft, Samira sei der ONS im Nachhinein einfach peinlich oder sie bereut ihn. Es ist nicht gleich Victim Blaming wenn man vom vermeintlichen Opfer etwas Eigenverantwortung erwartet.
Der Bus hält auch nur, wenn ich als Passagier auf den Stop-Knopf drücke. Mache ich das nicht, kann ich an der Endstation dann auch nicht dem Chauffeur vorwerfen, er hätte meine "Signale ignoriert".
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Neruda
10.08.2023 10:13registriert September 2016
Wenn Gian Signale fühlen könnte, wäre nichts passiert.
Bei mir ist's gerade umgekehrt, ich fühle keine Signale weshalb passiert nichts 😂

Interessantes Thema. Für mich bleibt es aber schwierig zu verstehen, warum man gerade bei Sex etwas macht, das man eigentlich nicht will. Im jugendlichen Alter hab ich ein gewisses Verständnis. Wäre aber schön, wenn man die Kinder so erzieht, dass sie auch in diesem Alter schon für sich einstehen und Nein sagen können. Eigentlich gehörten auch Gian und Co. erzogen bei Unsicherheit aufzuhören. Aber eben, Signale versteht man oft nicht.
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Loeffel
10.08.2023 11:21registriert Oktober 2016
Schöne Geschichte und Filmidee. Am anderen Tag ist halt ein „One night stand“ den man so eigentlich nicht wollte, kein Verbrechen sondern eine doofe Entscheidung, die man im Nachinhein bereut. Dies passiert bei Sex aber auch in zich anderen Lebenssituationen, wie zb im Strassenverkehr, bei Jobangeboten etc.
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Es ist immer noch saukalt draussen. Kommt, wir kochen Mac and Cheese!
Bei so einem Sch****wetter ist Comfort Food angesagt. Und es gibt fast nichts Gemütlicheres als eine dampfende Schale Mac and Cheese.

Schon mal aus dem Fenster geguckt heute? Ach, wieso auch? Denn draussen ist es weiterhin nass-neblig-düster-arschkalt-wäh-ichmagnichtmehr. Und das im April. Wetter, um zu Hause zu bleiben, auf dem Sofa zu hocken, eine Serie zu bingewatchen ... und dabei etwas zu essen.

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