«Oppenheimer» zu männlich? Schweizer Wissenschaftlerinnen kritisieren den Erfolgsfilm
Zeit wäre genügend verfügbar. Satte drei Stunden dauert das Epos «Oppenheimer» von Regisseur Christopher Nolan, das derzeit für volle Kassen in Schweizer Kinos sorgt. Viele Vorstellungen sind praktisch ausverkauft. Der Film über die Entstehung der Atombombe, die unter dem Namen «Manhattan Projekt» bekannt ist, hat nicht nur das Publikum überzeugt, sondern auch die Filmkritiker. Auf der Rezensionsplattform «Rotten Tomatoes» hat der Streifen einen Zustimmungswert von über 90 Prozent.
Cineastisch mag der Film zu überzeugen. Doch in Bezug auf die Geschlechterverteilung wird Kritik laut. Denn Nolan, der bekannt ist für Actionfilme wie «The Dark Knight», «Inception» oder «Tenet», setzt wie in seinen bisherigen Werken bei den Rollen mehrheitlich auf Männer. Während bei den fiktiven Geschichten zumindest die kreative Freiheit als Argument angeführt werden könnte, so stellt sich bei historischen Erzählungen die Frage nach der Akkuratesse.
Und hier sind bei «Oppenheimer» Zweifel angebracht, wie englischsprachige Medien schreiben. Das US-Wirtschaftsmagazin «Business Insider» hat dazu einen Artikel publiziert mit dem Titel: «Die Frauen hinter dem Manhattan-Projekt, die Nolans neuer Film Oppenheimer komplett ignoriert».
Wer «Oppenheimer» gesehen hat, erhält tatsächlich den Eindruck, dass am Projektort in Los Alamos, New Mexico, praktisch ausschliesslich Männer am Werk waren. Selbst für kleinste Rollen setzt Nolan auf Stars wie Rami Malek («Bohemian Rhapsody») oder Matthew Modine («Stranger Things»). Während der 180 Minuten kommen gerade mal zwei Wissenschaftlerinnen flüchtig vor: Lilli Hornig und Charlotte Serber. Dabei haben laut «Business Insider» Hunderte von Frauen essenziell zum Gelingen des Vorhabens beigetragen. Sechs Beispiele:
Lilli Hornig
- Lilli Hornig forschte an Plutonium im Rahmen des Manhattan Projekts. Sie sprach sich jedoch als Unterzeichnende einer Petition gegen den Einsatz der Atombombe für Kriegszwecke aus. Stattdessen forderte sie die Regierung dazu auf, Japan die Kraft der neuen Bombe aufzuzeigen beim Einsatz auf einer unbewohnten Insel. Später machte sie sich als Frauenrechtlerin einen Namen.
Charlotte Serber
- Charlotte Serber arbeitete als Bibliothekarin in Los Alamos und musste in dieser Rolle mit streng geheimen Dokumenten umgehen. Sie erhielt als einzige Frau eine Führungsrolle und leitete zwölf Angestellte. Zudem half sie, mögliche Spione ausfindig zu machen, indem sie sich in benachbarten Dörfern in Bars betrunken gab und Gerüchte streute, wonach es sich beim Projekt um eine elektrische Rakete handle. In Nolans Film kommt Serber hingegen wie Hornig nur kurz vor - als Sekretärin Oppenheimers.
Floy Agnes Lee
- Die Biologin Floy Agnes Lee war in Los Alamos als Hämatologin tätig. Dabei sammelte sie Blutproben der Männer, die an der Atombombe arbeiteten, um ihre Gesundheitswerte im Auge zu behalten. Sie war zudem eine von wenigen amerikanischen Ureinwohnerinnen, die am Projekt beteiligt waren. Später leistete sie Pionierarbeit im Bereich der Chromosomen-Analyse.
Joan Hinton
- Die damalige Physik-Studentin Joan Hinton arbeitete im Team, das sich mit Uran als Energieantrieb auseinandersetzte. Sie war auch beim sogenannten Trinity -Test dabei, als die Bombe erstmals getestet wurde. Nach dem Krieg engagierte sie sich als Antikriegsaktivistin. Auch sie hatte sich wie Lilli Hornig zuvor dafür ausgesprochen, dass die Bombe nur als Drohkulisse gegenüber Japan dienen sollte.
Elizabeth Graves
- Elizabeth Graves war eine der wenigen Physikerinnen in den USA, die Erfahrung hatten mit dem sogenannten Cockroft-Walton-Teilchenbeschleuniger, der für die Entwicklung des Manhattan-Projekts unerlässlich war. Sie war schwanger zu Beginn ihrer Zeit in Los Alamos und ihre Wehen traten ein, als sie mit einem Experiment beschäftigt war. Sie verliess es erst, nachdem sie es beendet hatte. Mit ihrer Familie blieb sie auch nach dem Projekt in Los Alamos und forschte an der Nuklearphysik weiter.
Maria Goeppert Mayer
- Die Physikerin Maria Goeppert Mayer trug zur Entwicklung der Nuklearspaltung bei und arbeitete dabei mit Oppenheimers Kollege Edward Teller zusammen, der sich parallel zu Oppenheimers Atombomben-Projekt auf die Wasserstoffbombe fokussierte. Sie arbeitete an der Columbia Universität und besuchte Los Alamos sporadisch. Ihrem Ehemann erzählte sie von diesem Geheimprojekt nichts. 1963 gewann sie den Physik-Nobelpreis - als erst zweite Frau nach Marie Curie 1903.
Das mehrheitliche Weglassen dieser und weiterer Frauen sei äusserst schade, sagt Benita Combet. Die Soziologin der Universität Zürich forscht über geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Arbeitsmarkt und hat dabei auch Studien verfasst zur Unterrepräsentation von Frauen in sogenannten MINT-Fächern: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.
«Der Film ist leider eine verpasste Chance», sagt Combet. Viele junge Menschen, die sich Oppenheimer im Kino ansehen, würden nicht erfahren, dass auch eine spätere Nobelpreisträgerin am Projekt beteiligt gewesen war. «Gerade im Gymnasium hat man noch nicht immer eine klare Vorstellung, welche Studienrichtung man einschlagen möchte, und da könnte ein solcher Film durchaus als Inspiration für manche junge Frau dienen, wenn sie sich auf der Leinwand repräsentiert sieht.»
Combet weist denn auch auf den deutlich tieferen Frauenanteil an Hochschulen hin in MINT-Studiengängen, insbesondere in Ingenieurwissenschaften und Mathematik.
Gabrijela Pejic-Glisic, die an der Kantonsschule Menzingen in Zug unterrichtet, pflichtet Combet bei. Die Biochemikerin ist Mitründerin und Projektleiterin des MINT-Frauennetzwerkes, bei dem mehrere Kantone an Bord sind mit dem Ziel, dass sich mehr Mädchen für MINT-Fächer und entscheiden. «Ein Mangel an Vorbildern kann dazu führen, dass sich Mädchen und junge Frauen weniger dafür begeistern.»
Daher wäre es laut Pejic-Glisic wünschenswert, wenn Filme wie «Oppenheimer» erfolgreiche Wissenschaftlerinnen nicht aussen vor lassen würden, selbst wenn die Wissenschaft in den 1940er-Jahren männlich geprägt war. Allerdings: «Möglicherweise wären andere Themen geeigneter als die Entwicklung der Atombombe, um das Interesse von jungen Frauen für MINT zu wecken.» Insofern habe sie persönlich die knappe Präsenz der Wissenschaftlerinnen in diesem speziellen Fall nicht gestört, auch weil der Fokus klar auf Robert Oppenheimer gelegen habe.
Fakt ist: Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich kam in eine Studie zuletzt zum Schluss, dass der Frauenanteil in technischen Studiengängen hierzulande so tief wie in kaum einem anderen OECD-Land ist. Trotz vieler Förderprogramme habe sich daran in den letzten zehn Jahren kaum etwas geändert.
Dies hat Folgen für die hiesige Wirtschaft: «Das Geschlechterverhältnis im MINT-Bereich ist nicht nur für Schweizer Firmen, die qualifizierte Arbeitskräfte suchen, von Bedeutung. Es hat auch direkte Auswirkungen auf Lohnunterschiede im Arbeitsmarkt», schreibt das KOF in seiner Analyse. So würden in MINT-Berufen höhere Löhne bezahlt als in weniger technischen Berufen.
Als Grund für die Diskrepanz nennt die internationale Forschung, die weit verbreitete Idee in Gesellschaften, dass Frauen geringere mathematische, analytische und technische Fähigkeiten besitzen. So können Lehrpersonen mit diesen unbewussten, stereotypen Einstellungen schlechtere Schulleistungen von Schülerinnen in Mathematik hervorrufen und dazu beitragen, dass diese sich eher gegen eine Spezialisierung in technischen Fächern im Gymnasium entscheiden. Auch das familiäre und soziale Umfeld kann mit stereotypen Haltungen zum geringen Interesse an mathematischen Fächern beitragen.
Und wohl auch: ein Film wie Oppenheimer. (aargauerzeitung.ch)
