Das Geschrei im Kino GranRex ist ohrenbetäubend, alle springen von den Sitzen, schwenken Plakate mit Herzchen und Liebeserklärungen, kreischen: «We love you!!!!», «You look so good!», und der Mann auf der Bühne in ausgebleichten grauen Jeans, einem schwarzen T-Shirt und Sneakers sagt: «Danke dafür, dass ihr mich so sehr liebt, danke dafür, dass ihr mich so attraktiv findet. Alle, die mich nicht kennen – bitte verlasst den Saal, googelt mich und kommt zurück.» Riesengelächter.
Natürlich kennen alle hier Shah Rukh Khan – einige von ihnen haben eine lange Reise für den Bollywood-Superstar auf sich genommen, sie sind ein paar der 3,5 Milliarden Fans, die ihn verehren; in Indien gilt er gelegentlich als Halbgott, aber mindestens als King Khan; an seinem Geburtstag werden jedes Jahr mehrere Strassen in Mumbai gesperrt, damit ihm die Fans in Massen huldigen können; seine Initialen SRK sind heilig, er soll reicher als Tom Cruise sein und er besitzt drei Cricket-Teams.
Das Publikum in Locarno weiss genau, wieso es zu ihm gepilgert ist: Um eine gute Zeit zu haben. Eine irrsinnig gute Zeit, muss man präzisieren, die Gleichzeitigkeit aus äusserster Arroganz und Bescheidenheit, aus Überheblichkeit und grosser Emotionalität ist ein durchschlagendes Konzept, dem man innerhalb von Sekunden auf den Leim geht.
«Während Covid musste ich meine Haare wachsen lassen, es gab niemanden, der sie schnitt. Ich trainierte viel, und eines Tages erblickte ich mich in meiner ganzen Pracht im Spiegel», sagt der heute 58-Jährige, «und ich sagte mir: Ich bin Tarzan! Ich muss einen Action-Film drehen!» Vor Covid war er ein Bollywood-Lover. Der Mann, der ausgebreitete Arme als romantische Entscheidungs-Pose schlechthin definierte: Waren sie ausgebreitet, rannte unweigerlich eine Frau herbei. Einmal musste er die Kieferprothese tragen, die Brad Pitt in «Benjamin Button» getragen hatte. Es war keine Verbesserung von Shah Rukh Khan.
Nach Covid wurde er zum Action-Star. «Long hair, that's it», kommentiert er seinen Karriereumschwung. Vom Tanzen zur Action-Akrobatik also. Das Tanzen überforderte seine Koordinationsfähigkeit – die Action seinen Rücken und seine Hüfte. «Auf der Leinwand sehe ich cool aus, aber danach ...»
Wäre Shah Rukh Khan heute Kind, so würde man ihm Hyperaktivität unterstellen: «In der Schule wollte ich immer bei allem mitmachen, egal ob beim Hundertmeterlauf oder bei einem wissenschaftlichen Experiment». Er sagte auch schon einmal, dass er immer überall der Beste habe sein wollen. Abseits der Schule schaute er Filme. «Kino war das Grösste, und wir besassen zu Hause einen Videorekorder. Wir lebten sehr bescheiden, aber meine Tante war reich und sie schenkte uns einen. Der Videorekorder stand im Zimmer meiner Mutter. Wir glauben in Indien, dass sich unter den Füssen einer Mutter der Himmel befindet. Meine Mutter sagte also: ‹Massiere meine Füsse!›, und wenn ich sie massiert hatte, gingen die Filme los, einer nach dem anderen.»
Später studierte er Kommunikation und Film und wollte Regisseur werden, doch ab 1988 spielte er kleinere Rollen fürs Fernsehen und 1991, mit 26 Jahren, verschlug es ihn zum Film: «Eines Tages traf ich einen sehr berühmten Regisseur, dessen Namen ich jetzt nicht nenne, obwohl er nichts dagegen hätte, und er sagte: ‹Weisst du, das Attraktivste an dir ist, dass du so hässlich bist. Alle unsere Filmhelden sehen zu sehr nach Schweizer Schokolade aus!› Ich nicht. Also spielte ich Bösewichte. Doch einer meiner Filme führte mich in die Schweiz, und ich glaube, als ich eure Milch trank, wurde ich schokoladig. Danach drehte ich eine Liebesgeschichte.»
1991 heiratete er auch die Frau, in die er sich mit 19 verliebt hatte und mit der er immer noch glücklich ist: Gauri Khan ist heute selbst Filmproduzentin und Designerin, Tochter Suhana ist Schauspielerin und Sohn Aryan ist Unternehmer im Luxusbereich, angehender Filmproduzent und berüchtigter Drogenkonsument.
Shah Rukh Khan arbeitet irrsinnig gern mit Frauen zusammen. Mit Schauspielerinnen, Regisseurinnen, Produzentinnen. Das macht ihn in Indien und ganz Asien natürlich zu einem NOCH grösseren Frauenhelden: «Auf der Ebene des Deal Making oder Deal Breaking unterscheiden sich Männer und Frauen nicht. Aber in der filmischen Arbeit sind Frauen sensibler und nuancierter, sie denken in grossen, alles zusammenhaltenden Bögen und ihre Filme sehen besser aus. Und: Männer, versteht mich nicht falsch, und ich bin mir sicher, dass es jetzt auf Social Media Leute geben wird, die das für unangemessen halten: Frauen riechen besser!» Überhaupt sei er wahnsinnig in touch mit seiner inneren Weiblichkeit, sonst würde er jetzt auch nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Bühne sitzen, und Girls Talk sei ihm viel lieber als Gespräche über Waffen. Ist der Mann etwa ein Swiftie?
Er sieht sich als Freudenbringer: «Ich will, dass meine Filme Hoffnung verbreiten, dass sie Freude machen und dass sich das Publikum für ein paar Momente besser fühlt. Die Fähigkeit, Menschen zu unterhalten, war für mich immer schon das Allerwichtigste. Die Sache mit dem Ruhm habe ich nie begriffen. Ich tue alles für mein Publikum – und dafür liebt es mich zurück. Ruhm ist ein zufälliges Nebenprodukt, ich trage ihn wie ein T-Shirt, nicht wie einen Frack.»
Die indische Ökonomin Shrayana Bhattacharya veröffentlichte 2022 das Buch «Desperately Seeking Shah Rukh: India's Lonely Young Women and the Search for Intimacy and Independence». Sie befragte darin Dutzende von indischen Frauen über ihre Lebensrealität, ihre ökonomischen und emanzipatorischen Möglichkeiten. Und sie erkannte bald, dass alle einen gemeinsamen Fluchtpunkt und Helden hatten: Shah Rukh Khan. Weil in seinen Filmen Romantik über traditionelle Eheschliessungen gestellt wurde, weil sie purer Hedonismus waren und damit eine Form des Widerstands, jedenfalls für eine alleinstehende Frau.
Im Juli 2024 schrieb Bhattacharya im «Guardian» über ihre Recherchen: «Ich habe zu viele Geschichten über Gewalt gegen Frauen gehört, die sich einfach nur einen Film ansehen oder das Bild eines Filmstars in ihrem Zimmer aufbewahren. Fantum wurde als unangenehmes Zeichen weiblicher Sexualität angesehen. Kinokarten und private Vorführungen von Filmen waren nicht einfach nur individuelle Käufe. Sie waren kollektive Akte des Vergnügens in einer Gesellschaft, die versucht, den weiblichen Körper und das Begehren zu regulieren, um die ‹Reinheit› und ‹Ehre› der Kaste zu wahren. Ein Khan-Fan zu sein, war eine ungewöhnliche und subtile Form des Widerstands gegen restriktive Geschlechternormen.»
Shah Rukh Khan hat Bhattacharyas Buch selbstverständlich gelesen, für grossartig befunden und sie zum Dank in seine Villa eingeladen. Sie beschrieb ihn daraufhin als «übermenschlich, nicht aus diesem Universum und doch der Allermenschlichste».
Das Video mit Shah Rukh Khans Auftritt im GranRex geht unterdessen um die Welt, Hunderttausende haben es schon auf YouTube angeklickt. Und mehr als doppelt so viele haben ihm dabei zugeschaut, wie er abends auf der Piazza Grande vor der Grossleinwand seinen Karriere-Leoparden entgegennimmt und sagt: «So viele Leute, die sich auf einem kleinen Platz drängen, und so heiss: Es ist, als wäre ich zuhause in Indien.» Eine Million Likes hat sein schwarz-weisses Festival-Porträt auf Instagram im Moment, da dieser Artikel geschrieben wird, and counting. Sowas gabs aus Locarno noch nie. Aber so ein Gesamtwunderwerk wie Shah Rukh Khan gabs da auch noch nie.
Ich erlaube mir, den hier zu verlinken (sorry liebe Frau Meier 🥲)
https://www.nzz.ch/gesellschaft/indiens-wahrer-koenig-ist-ein-muslim-ld.1840798