Willem Dafoe über Reiche und Mächtige: «Du musst andere zerquetschen, um zu siegen»
Er war Jesus, Van Gogh und Spidermans Widersacher Green Goblin. Für David Lynch liess er sich in «Wild at Heart» den Kopf wegschiessen, in Lars von Triers «Antichrist» wurde er verstümmelt. Willem Dafoe, 70, hat in rund 150 Filmen mitgespielt. Oft, aber keineswegs immer den Schurken. Doch jedes Mal intensiv, mit koboldhaftem Gesicht und rollenden Augen, aus denen der Schalk ebenso strahlen kann wie latente Bedrohlichkeit.
In Locarno präsentiert Dafoe «The Birthday Party» von Regisseur Miguel Ángel Jiménez. Ein intensives, hypnotisches Drama über einen kontrollsüchtigen griechischen Milliardär, der für seine Tochter eine Geburtstagsparty auf einer Privatinsel schmeisst. Bis das Ganze komplett aus dem Ruder läuft, woran er den Löwenanteil trägt. Ganz so einschüchternd ist der Schauspieler im Gespräch zum Glück nicht. Im Gegenteil.
Mit dem griechischen Milliardär Markos fügen Sie Ihrer Sammlung von komplexen, aber schrecklichen Typen einen weiteren hinzu. Bekommen Sie jemals Angst vor den eigenen Figuren?
Willem Dafoe: Nein, denn du musst die Figur einfach sein. Menschen rechtfertigen ihr Verhalten immer irgendwie – sonst wären sie nicht in der Lage, zu tun, was sie tun. Markos sieht sich nicht als schlechten Menschen. Er denkt, er handle aus Liebe, er ist ein harter Arbeiter, pragmatisch und kann sehr freundlich zu seinen Mitarbeitern sein. Er ist eine komplexe Figur, nicht bloss ein Monster. Ja, er ist realitätsfern, Teil einer toxischen patriarchalen Struktur, ein Macho. Aber auf der anderen Seite sieht man auch, wie viel Angst er hat und wie sehr er von dem natürlichen Wunsch nach einem Vermächtnis besessen ist.
Würden Sie sagen, dass das Schauspielern – besonders bei solchen Rollen – persönlich die Fähigkeit zur Empathie erhöht?
Absolut, du öffnest dich. Andere Denk- und Lebensweisen anzunehmen, hilft dabei, sich eine bessere, verständnisvollere Welt vorzustellen. Und die Schönheit in all den Widersprüchen zu erkennen. Wir verurteilen andere schnell, weil wir unsere eigenen moralischen Massstäbe anlegen. Davon musst du dich als Schauspieler bis zu einem gewissen Punkt lossagen, schliesslich verkörperst du die Figur. Wenn du jemanden spielst, darfst du ihn nicht verurteilen. Das Bild muss vollständig sein, damit es glaubhaft und real wirkt. Du musst mit der dunklen Seite flirten, sowohl das Licht als auch den Schatten sehen.
Was womöglich leichter ist, wenn der Film 1975 spielt, also in einer Vergangenheit, in der das Image der Superreichen zumindest noch ein Stück weit mit Grazie und Grandezza verbunden war ...
Ja, «The Birthday Party» zeigt eine ganz andere Zeit. Heute hat der Kapitalismus gewonnen. Für mich heisst reich sein nicht unbedingt etwas Gutes. Denn es geht darum, sich unbedingt durchzusetzen, du musst andere zerquetschen, um zu siegen. Das bringt eine Art von permanenter Bosheit mit, die sich nun in grossem Masse ausbreitet.
Verheerender Machtmissbrauch hätte längst überwunden oder zumindest geschwächt sein können – und nun erleben wir einen massiven Backlash, vor allem in den USA ...
Ich bin sprachlos. Ich kann die Welt gerade kaum fassen. Nicht nur in den USA, überall.
Darauf mit Empathie zu reagieren, funktioniert vielleicht in der Fiktion, doch was kann man im echten Leben tun?
Wenn ich wüsste, wie das geht, würde ich wahrscheinlich etwas anderes mit meinem Leben anstellen (lacht, lange Pause). Wenn ich etwas spiele, denke ich nicht darüber nach, was ausserhalb dieses Spiels liegt. Ich hänge mich rein, versuche, anders zu denken und zu fühlen. Um eine Figur zum Leben zu erwecken, muss ich mich selbst verlieren. Das Ergebnis davon will ich nicht kontrollieren. Denn dann wird ein Film veröffentlicht, und die Leute denken, du willst irgendeine Botschaft vermitteln. Aber ich glaube nicht an Botschaften.
Woran dann?
Ich glaube daran, Dinge einfach zu machen. Und ich glaube daran, dass diese Dinge für sich sprechen. Du kontrollierst nicht, wie sie das tun. Du setzt dich damit auseinander – und dann entsteht etwas, während du eine Figur spielst. Wenn es wirklich aufrichtig ist und kein Bullshit, wo du versuchst, irgendeine Message zu senden, dann passiert vielleicht etwas Interessantes, das andere zum Nachdenken bringt. Ich bin nicht ignorant, aber ich habe danach kein grosses Interesse an einer Analyse, die habe ich währenddessen ja bereits erledigt (lacht).
Gilt das auch dann, wenn Sie auf Ihre lange Karriere zurückblicken?
Ja, ich schaue selten zurück. Sobald ich einen Film gesehen habe und die Pressearbeit beendet ist, schaffe ich Raum für den nächsten. Manche sehen ihre eigenen Filme und lernen daraus, ich lerne meine Lektionen intuitiv beim Drehen. Vielleicht will ich auch gar nichts lernen. Denn wenn du dich einmal in Bewegung gesetzt hast und nicht alles durchplanst, passieren überraschende Dinge. Dann wird ein Teil von dir aktiviert, den du normalerweise nicht erreichst. Einfach in den Himmel schauen, ohne ständig zu fragen, was es bringt oder soll. Irgendetwas beim Schauspiel hilft dabei. Klingt vielleicht ein bisschen abgehoben – aber ich glaube daran.
Dann sind Ihnen Image oder Preise auch nicht so wichtig?
Nur insofern, als ich mir meine Möglichkeiten bewahren und weiterhin das tun will, was ich liebe.
Das klingt nach einer recht geerdeten, glücklichen Philosophie ...
Gut, die Philosophie ist das eine. Aber lebe ich sie? Keine Ahnung. Ich glaube nicht strikt an Ziele, aber irgendwohin muss man sich schon ausrichten. Sonst ist man gnadenlos den eigenen Wünschen und Begierden ausgeliefert. Und wir wissen ja, dass das ganz schön nach hinten losgehen kann (lacht).
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