Sie war die Dame mit dem Gift. Sie tötete mit Arsen, Morphium, Strychnin, Atrophin und selbstverständlich Zyankali. In 41 ihrer 66 Kriminalromane gab es einen Mord, versuchten Mord oder Suizid durch Vergiftung. Und so makellos war ihr Wissen über alle möglichen Gifte, dass ihre Bücher selbst in Apothekerzeitungen für ihren Realismus gelobt wurden.
Denn Agatha Christie kannte sich aus. Die 1890 geborene Tochter aus zuerst gutem, dann verlottertem Haus arbeitete während des Ersten Weltkriegs als freiwillige Krankenschwester in einem Spital in Torquay, versorgte heimgekehrte Kriegsversehrte, entsorgte amputierte Glieder und inmitten des Grauens begann sie, Kriminalromane zu schreiben. Und weil sie in Tourquay besonders viele belgische Kriegsflüchtlinge kennenlernte, entstand damals auch ihr erster und legendärster Detektiv: der belgische Kriegsflüchtling und pensionierte Polizeibeamte Hercule Poirot.
England erlebte damals einen Boom an literarischen Verbrechen und Detektiven. Mit der Industrialisierung hatte sich das Land verändert, hatte sich urbanisiert, mit dem Wachstum waren neue, ungewohnte, unheimliche Räume entstanden, auf die sich viele Bedrohungen projizieren liessen. Sherlock Holmes wurde zum Inbegriff des arroganten, drogensüchtigen, grossstädtischen Ermittlers.
Hercule Poirot war eine Parodie auf Sherlock Holmes: pragmatisch statt genialisch, bodenständig statt elitär, eher unscheinbar und klein, das Exaltierteste an ihm war sein Schnurrbart, dass Christie ausgerechnet ihn «Herkules» taufte, war natürlich ein Witz. Dass er aus Belgien stammte, war ein Kunstgriff: Die britischen Protagonisten liessen sich durch die Brille des Ausländers noch ironischer betrachten. Und wie Miss Marple, Agatha Christies ebenfalls schrullige Ermittlerin, war er nicht aristokratisch, sondern stammte aus der Mittelschicht.
Auch Miss Marple war eine Ausgeburt des Ersten Weltkriegs. Der Verlust an Männerleben im Krieg hatte in England zum Phänomen der sogenannten «surplus women», der «überschüssigen Frauen», der alleinstehenden, singulären und wirtschaftlich selbstständigen Frauen geführt. Nicht zu verwechseln mit der abwertend gemeinten «alten Jungfer». Miss Marple jedenfalls war keine. Eingeführt wird sie von Agatha Christie als 65-Jährige, die sich genüsslich an ihre wilde Jugend erinnert: «Es hatte viel davon gegeben – es war nicht viel darüber geredet worden, dafür umso mehr genossen», heisst es einmal, gemeint ist Sex.
Dass Agatha Christie ihrem Publikum mit Hercule Poirot und Jane Marple zwei selbstbewusste ältere Singles mit einem erfüllten Leben vorsetzte, war revolutionär. Und möglicherweise auch die kleine Realitätsflucht einer Autorin, die erst nach vierzig glücklich wurde. Davor war Chaos. Aber auch schon sehr viel Erfolg. Der allerdings erst durch ein besonderes, privates Unglück im verdammten Jahr 1926 so richtig explodierte.
Doch beginnen wir endlich einmal von vorn: Agatha Mary Clarissa Miller kommt am 15. September 1890 als letztes von drei Kindern in Torquay, Devon, zur Welt. Ihr Vater ist der liebenswerte, aber nichtsnutzige Sprössling einer amerikanischen Unternehmerfamilie, er muss kein eigenes Geld verdienen und verbringt alle seine Tage im Club. Ihre Mutter stammt aus einer irischen Offiziersfamilie. Agatha ist ein scheues Kind, wird zuhause unterrichtet und ihr Lieblingsessen ist (und wird es ein Leben lang bleiben): Rahm. Sie verabscheut Milch, besonders warme, doch Rahm kann sie gläserweise trinken. Ihre Ausbildung ist solide, einzig Mathematik wird vernachlässigt, was Agatha viel später, als sie Probleme mit der Steuerbehörde kriegt, bitter bereut.
Als die Einkünfte aus Amerika allmählich versiegen, vermieten die Millers ihren englischen Landsitz und verbringen ihre Zeit in Südfrankreich, 1901 stirbt der Vater, Agatha wird zur Weiterbildung nach Paris geschickt, die Familie hat sich in den Kopf gesetzt, sie solle Opernsängerin werden, sie hat kein Talent.
Zum Glück ist die Sache mit ihrem Lieblingshobby, dem Schreiben, nicht so kostspielig. Die Gesundheit der Mutter erodiert ebenfalls, zur Kur reist man nach Kairo. Ziel ist, Agatha, wie ihre ältere Schwester Madge, mit einem möglichst reichen Mann zu verheiraten. Der Plan scheitert, sie zieht Schönheit dem Reichtum vor und schlägt insgesamt neun gute Partien aus, weil sie sich in den ein Jahr älteren, äusserst feschen Piloten und Motorradfahrer Archibald Christie verliebt. Das ist 1912.
1914 wird Archie eingezogen, die beiden heiraten im Dezember 1914 bei einem Fronturlaub, Agatha arbeitet jetzt im Spital und ab 1916 auch an ihrem ersten Kriminalroman «The Mysterious Affair at Styles» mit Hercule Poirot. Daneben schreibt sie einen Fortsetzungskrimi für das Spitalmagazin, in dem sich ihre Patienten und das Spitalpersonal wiederfinden können. Und sie sieht sich zum ersten Mal in ihrem Leben einem hierarchischen Arbeitsverhältnis ausgesetzt, in dem sie «unten» ist. Es ist eine wichtige Soziologie-Lektion für sie.
1819 kommt ihre Tochter Rosalind zur Welt und sie erhält ihren ersten (und wirtschaftlich nicht vorteilhaften) Verlagsvertrag für mehrere Romane. 1920 erscheint «The Mysterious Affair at Styles» in Amerika und wenige Wochen später in England, die Zeitungen von der «New York Times» bis zur «Sunday Times» sind des Lobes voll, das Christie-Rezept ist geboren: Eine reiche alte Dame mit einem formidablen Landsitz wird ermordet (mit Strychnin), das Personal ist überschaubar, restlos alle sind verdächtig, Poirot kombiniert und kombiniert und (er)klärt den Fall erst ganz zum Schluss in einem rhetorischen Stunt.
Es ist ein Muster, das Christie zeitlebens wiederholt, der Landsitz kann auch ein Pfarrhaus, ein Hotel, ein Zug oder ein Schiff sein, der letzte Akt findet oft in einer Bibliothek statt. Atmosphäre und literarische Ambitionen, so sagte sie, waren ihr nicht wichtig, sie war dialogversessen, sie belauschte ihr Umfeld und kopierte seine Gespräche und Marotten in ihre Romanfiguren hinein. Christies Verbrechen werden beim Reden gelöst, es geht um Logik, Verstandesschärfe und enorm schnelle Schlussfolgerungen, es ist ein elegantes, intelligentes Spiel, dem man noch immer verblüfft folgt. Klar, dass sich dies ungeheuer gut für Drehbuchvorlagen eignete, wir erinnern uns an die grossartigen Miss-Marple-Verfilmungen mit Margaret Rutherford aus den 60er-Jahren oder an die vielen Poirot-Darsteller, darunter Albert Finney und Kenneth Branagh.
Studiert man die Rangliste der meistverkauften Bücher weltweit und aller bisherigen Zeiten, so steht die Bibel mit geschätzten fünf Milliarden Exemplaren auf Platz eins. Auf Platz zwei folgen mit geschätzten zwei bis vier Milliarden alle Werke von Shakespeare zusammengenommen. Und dann kommt auch schon Agatha Christie. Gleichauf oder minimal hinter Shakespeare, ebenfalls mit geschätzten zwei bis vier Milliarden. Doch im Gegensatz zur Bibel oder zu Shakespeare hatten ihre Werke nicht mehrere Jahrhunderte, sondern bloss etwas über 100 Jahre Zeit, sich zu verbreiten.
Archie leidet nach dem Krieg unter Depressionen, Agathas Mutter ist krank und dann kommt auch noch ihr Bruder Monty aus Südafrika zurück, er hat dort für eine Handelskompanie gearbeitet, ist morphiumsüchtig geworden und sitzt jetzt am liebsten mit einer Pistole am Fenster und zielt auf alte Damen. Mit Ausnahme ihrer Schwester Madge ist Agathas Familie keine Freude.
Doch dann findet sich eine erfolgreiche Arbeitstherapie für Archie: 1924 und 25 soll in Wembley die British Empire Exhibition stattfinden und die kolonialen Erfolge der Briten feiern. Archie wird vom Ausstellungsleiter als Finanzchef engagiert. Und geht gemeinsam mit Agatha neun Monate lang auf eine Vorbereitungs-Reise durch die Kolonien. Die kleine Tochter lassen sie zuhause, fahren nach Madeira, Südafrika, Australien, Neuseeland, Hawaii und Kanada. Agatha lernt surfen, das ist das Schönste an der Reise, bei der Rückkehr sind die Christies beide krank, vollkommen genervt und haben kein Geld mehr.
Gemeinsam mit der neun Jahre jüngeren Nancy Neele, einer Sekretärin, entwirft Agatha für die British Empire Exhibition eine Schatzinsel für Kinder.
Und dann kommt ihr annus horribilis. 1926. Agatha wird von ihrem Verleger immer stärker unter Druck gesetzt, immer noch mehr zu produzieren, ihre Mutter stirbt, ihre eigene Gesundheit verschlechtert sich, sie leidet unter Schlaflosigkeit und Nervenzusammenbrüchen. Und dann gesteht ihr Archie, dass er sich in Nancy Neele verliebt hat. In die jüngere, sportliche, äusserst attraktive und immer blendend gelaunte Nancy Neele.
Agatha ist da 36 und fühlt sich alt und ausgelaugt. Am 3. Dezember 1926 verschwindet sie. Am Nachmittag besucht sie noch die Schwiegermutter, am liebsten möchte sie ihr Auto gegen einen Baum fahren, doch ihre Tochter sitzt mit im Wagen. Nachts packt sie ein paar Sachen und viel Geld und fährt los. Am 4. Dezember, kurz nach 6 Uhr früh, fährt sie einen Abhang runter, der in einem Steinbruch mündet, doch der Wagen bleibt stecken. Sie kriecht mit einer Kopfverletzung aus dem Wagen, lässt alles zurück ausser ihrem Geld und läuft ihrem Leben davon.
Zehn Tage lang logiert sie als Teresa Neele aus Südafrika in einem Kurhotel in der Bäderstadt Harrogate. Kauft sich eine exorbitante neue Garderobe, nimmt am gesellschaftlichen Leben teil, tanzt und singt sogar für die Gäste. Und liest in den Zeitungen, dass die berühmteste Kriminalautorin der Welt gesucht werde. Wundert sich über die Frau und ihr Verschwinden. Und merkt nicht, dass sie selbst Agatha Christie ist. Jedenfalls war das danach ihre Erklärung. Sie soll nach dem Schock des Ehebetrugs unter einer dissoziativen Störung gelitten haben, einem «Gedächtnisverlust».
Bis ihre wahre Identität im Hotel auffliegt, findet eine fieberhafte Suche nach der Leiche von Agatha Christie statt. Die Medien haben ein Fest. Sie verdächtigen Archie, Agatha ermordet zu haben. Als sich einfach keine Leiche findet, verdächtigen sie Agatha, Archie als Mörder framen zu wollen. Immer mehr Menschen beteiligen sich an der Suche, mehrere hundert Polizisten, Freiwillige, Spürhunde und Helikopter sind unterwegs. Und die Crème de la crème von Agathas Kollegen.
Edgar Wallace gibt Interviews zum Fall Christie, Dorothy L. Sayers ist beim Suchtrupp mit dabei und Sir Arthur Conan Doyle befragt ein Medium, das sagt, Agatha Christie werde am 14. Dezember wieder auftauchen. Was sie dann auch tut. Der Sherlock-Holmes-Schöpfer triumphiert.
Agathas Ruf ist angekratzt. Eine psychisch angeschlagene Frau ist nicht gesellschaftsfähig. Doch ihre Bücher verkaufen sich besser als je zuvor, sie ist jetzt ein Medienphänomen, eine Celebrity. Statt einer Therapie fährt sie lieber auf die Kanaren und schreibt ein neues Buch. «Crime is like drugs», sagt sie einmal, Verbrechen ist wie Drogen. Für ihr Publikum, aber auch für sie. In ihren Krimis sublimiert sie ihre Rachegefühle. Und macht Männer wie Archie wieder und wieder zu Tätern.
Nach der Scheidung reist sie zu Freunden nach Ur im Iran und lernt dort den 14 Jahre jüngeren, scheuen, kleineren, grosszügigen und klugen Archäologen Max Mallowan kennen. Die beiden brennen füreinander. Während eines Besuchs in England macht er ihr einen Heiratsantrag, sie macht sich grosse Sorgen wegen des Altersunterschieds, sagt erst Nein, dann Ja, dann Nein, zwei Stunden lang streiten sie miteinander, dann bleibt sie bei einem Ja. Ein halbes Jahr nach ihrem ersten Aufeinandertreffen findet die Hochzeit statt. Sofort nach der Hochzeit beginnt Agatha den ersten Miss-Marple-Roman «The Murder at the Vicarage». Die beiden sind 45 glückliche Jahre lang zusammen.
Während des Zweiten Weltkriegs arbeitet Agatha erneut im Spital und erlebt in London den Blitz. Max ist mit der Royal Airforce drei Jahre lang in Afrika stationiert. Agatha hat inzwischen den Verlag gewechselt und ist beim späteren Harper Collins. Lange hat sie Schreiben mit sehr viel Nonchalance nicht als eigentlichen Beruf betrachtet, sondern bloss als Berufung, und keine Steuern bezahlt, nun häufen sich die Steuerschulden, sie ist erstaunt, wie schnell sich ihre Einnahmen wieder verflüchtigen, sie hat keine Ahnung von nichts und nimmt sich endlich einen Agenten, der sich um alles kümmert.
Nach dem Krieg kommt ein weiteres Problem hinzu: Lange scherte sich Agatha Christie einen Dreck um sowas wie politische Korrektheit. In ihren Romanen, die oft mit schnellen Charakterskizzen arbeiten, gehörten Klischees zum Alltag. Böswillig eingesetzt waren sie nie, Agatha Christie hatte sich auf ihren vielen Reisen weitergebildet und Nazis waren eindeutig das grösste Übel, aber sie waren trotzdem da. Und sie wirkten nicht nur gedankenlos, sondern auch zunehmend geschmacklos.
Ihr 1939 in England unter dem Titel «Ten Little Niggers» erschienener Roman hatte deshalb schon 1940 in der amerikanischen Erstausgabe «And Then There Were None» geheissen. Die deutschen Christie-Übersetzer waren nach 1945 die ersten, die alle antisemitischen und rassistischen Zuschreibungen strichen. Und 1947 schickte die amerikanische Anti-Defamation League einen Brief an ihren Agenten, in dem sie sich über Christies Gebrauch von antisemitischen und rassistischen Stereotypen beschwerte. Sie entschuldigte sich umgehend und bat ihren amerikanischen Verleger darum, alle betreffenden Stellen in ihren Büchern zu redigieren. Eine Einsicht, die anderen Autoren gut anstehen würde.
Agatha Christie ist nicht nur die milliardenfach verkaufte Bestsellerautorin, die eine riesige Nachfolgerinnenschaft an Krimi-Autorinnen inspiriert hat. Und deren Rezept, das früher ultramodern war und heute als «gemütlich» gilt, Serien wie «Only Murders in the Building» oder «The Residency» ermöglicht. Agatha Christie ist überall. Und sie ist noch immer auf der Bühne, im am längsten, ununterbrochen gespielten Live-Event, in der Londoner Inszenierung ihres Stückes «The Mousetrap» nämlich, das seit 1952 schon über 30'000 Mal im Saint Martin's Theatre gespielt worden ist. Auch das hat sie geschafft.
Und sie hat erreicht, dass die Weltmedien zum ersten Mal in ihrer Existenz einen Nachruf auf eine fiktionale Figur geschrieben haben. Am 6. August 1975 trug die «New York Times» Hercule Poirot zu Grabe, der Detektiv hatte soeben in «Curtain» seinen letzten Fall abgeschlossen.
«Herr Poirot wurde nach seiner Pensionierung als Mitglied der belgischen Polizei im Jahr 1904 als Privatdetektiv berühmt. Seine Karriere, die in den Romanen von Dame Agatha Christie, seiner Schöpferin, beschrieben wird, war eine der glanzvollsten in der Belletristik.
Am Ende seines Lebens war er arthritisch und hatte ein schwaches Herz. Er sass oft im Rollstuhl und wurde von seinem Schlafzimmer in den Aufenthaltsraum von Styles Court, einem Pflegeheim in Essex, getragen, wobei er eine Perücke und falsche Schnurrbärte trug, um die Alterserscheinungen zu verbergen, die seine Eitelkeit verletzten. In seiner aktiven Zeit war er immer tadellos gekleidet.»
Der Text war auch ein vorweggenommener Nachruf auf Agatha Christie selbst, die «Klassensprecherin» aller Krimiautorinnen, wie eine Kollegin von Christie der «New York Times» sagte.
«Ihr Einfluss auf ihr Publikum ist in gewisser Weise bemerkenswert, weil die Art von Fiktion, die sie schreibt, nicht gerade zeitgemäss ist. Ihre Figuren stammen aus der ruhigen und äusserst komfortablen Mittelschicht: Ärzte, Anwälte, hochrangige Militärs, Mitglieder des Klerus. Die Häuser in ihren Romanen sind geräumig, Tee wird häufig und reichlich getrunken, Diener gibt es im Überfluss. ‹Ich könnte niemals Minenarbeiter in Pubs reden lassen›, vertraute sie einmal einem Interviewer an, ‹weil ich nicht weiss, worüber Minenarbeiter in Pubs reden.›»
Exakt fünf Monate nach dem letzten Poirot, am 12. Januar 1976, starb Agatha Christie friedlich auf ihrem letzten Anwesen Winterbrook House in Oxfordshire, das sie 1934 mit Max erstanden hatte. Er überlebte sie um zwei Jahre. Ihr Werk ist unsterblich.
Neben unzähligen Zeitungsartikeln und agathachristie.com wurde für diesen Artikel auch die Biografie «Agatha Christie» von Lucy Worsley (2022) als Quelle verwendet.