Leben
Homosexualität

Queerbaiting: Der Vorwurf der Aneignung kann auch problematisch sein

Queerbaiting: Wie ein Ausdruck sich ins Gegenteil verkehrte

Es häufen sich Fälle, in denen Prominenten wie Harry Styles vorgeworfen wird, sich gerne als queer darzustellen – ohne es aber zu sein. Woher die Kritik – und weshalb gibt es ebenso Kritik am Vorwurf des Queerbaitings? Ein Überblick.
09.02.2023, 20:1911.02.2023, 19:22
Lara Knuchel
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Harry Styles kleidet sich auf Magazincovers, Instagram oder auf dem roten Teppich gerne feminin oder androgyn – das ist an sich nichts Neues. Nun taucht aber besonders in den sozialen Medien immer wieder der Vorwurf auf, der Schauspieler würde sich lediglich als queer ausgeben. Er sei in der Realität aber heterosexuell und lege sich dieses Image deshalb aus opportunistischen Gründen an.

Dieser Vorwurf hat mittlerweile eine Bezeichnung – und zwar eine, die paradoxerweise früher genau das Gegenteil bedeutete: Queerbaiting. Woher dieser neue Begriff über eine neue Form der Aneignung stammt, was er genau beinhaltet und wieso der Vorwurf «Queerbaiting» auch problematisch sein kann.

Was ist Queerbaiting?

Der Ausdruck Queerbaiting existiert eigentlich schon seit geraumer Zeit, nur hat sich seine Bedeutung über die Jahre geändert. Besser bekannt als «Gaybaiting» hat der Begriff seinen Ursprung im Kontext der Unterdrückung von Homosexualität.

In den USA der 50er und 60er Jahre wurde Gaybaiting betrieben, um homosexuelle Menschen vor allem in staatlichen Betrieben oder der Politik auffliegen zu lassen und ihnen – angesichts der Attribute, die man mit Homosexualität verband – damit zu schaden. (Lässt man Gaybaiting übersetzen, wird es von den meisten Programmen denn auch als «Schwulenhetze» übersetzt.)

Man tat das, indem man ihnen eine vermeintliche «Spur» legte oder «Fallen» stellte – zum Beispiel, indem man glaubhaft machte, man sei selber homosexuell – und sie so zu einem Outing bewegte.

Harry Styles poses in the press room at the 63rd annual Grammy Awards at the Los Angeles Convention Center on Sunday, March 14, 2021. (Photo by Jordan Strauss/Invision/AP)
Harry Styles
Von einigen wird Harry Styles heute Queerbaiting vorgeworfen. Bild: keystone

Diese Praxis des Denunziantentums verschwand zunehmend. Mark Harris, Autor und Journalist bei der «New York Times», beschreibt allerdings, wie Gaybaiting auch 50 Jahre später noch ein Thema war, wenn auch subtiler:

«Noch vor 10 Jahren bezeichnete der Begriff ‹Gaybaiting› die Praxis, insbesondere in der Politik, jemandem in verschlüsselter Sprache spöttisch zu unterstellen, dass er schwul sei, um ihm zu schaden, während man gleichzeitig glaubhaft leugnen kann, es nie direkt zu sagen.»
Mark Harris, «New York Times»

Nun stehe Queerbaiting – «gay» hat mittlerweile dem inklusiveren «queer» Platz gemacht – sinnbildlich für «eine dieser seltsamen Entwicklungen in der Sprache, bei denen ein Ausdruck schneller, als man es sich vorstellen kann, fast genau das Gegenteil dessen meint, was er früher bedeutete».

Der Begriff richtet sich heute nämlich an die Gegenseite: Queerbaiting in seinem gegenwärtigen Gebrauch beschreibt Handlungen, Bemerkungen oder ein beiläufiges Verhalten von berühmten Personen, die darauf hindeuten sollen, dass sie vielleicht nicht hundertprozentig heterosexuell sind. Indem sie suggerieren, eine® von ihnen zu sein, wollen solche Personen demnach – möglicherweise aus rein kapitalistischen Gründen – ein LGBTQ-Publikum umwerben, obwohl sie selbst eigentlich heterosexuell sind.

Harry Styles performs "As It Was" at the 65th annual Grammy Awards on Sunday, Feb. 5, 2023, in Los Angeles. (AP Photo/Chris Pizzello)
Harry Styles
Styles kleidet sich gerne feminin, hat sich selber bisher aber nicht als nicht-heterosexuell geoutet. Bild: keystone

Der Vorwurf: Ein Künstler, eine Künstlerin, Schauspieler oder Personen des öffentlichen Lebens nehmen zwar ihre Aufmerksamkeit und ihr Geld gerne – sie bringen der LGBTQ-Community aber am Ende weder echte Repräsentation noch öffentliche Unterstützung.

Weshalb ist die Kritik nachvollziehbar?

Insbesondere in den sozialen Medien machen Vertreter und Vertreterinnen der LGBTQ-Community ihrem Ärger seit einiger Zeit Luft. Die berühmtesten Fälle von Personen, denen Queerbaiting vorgeworfen wird, sind zumeist männlich, Schauspieler – und eben nicht (oder zumindest nicht offen) homo- oder bisexuell.

«Solange sie verwirrt sind, habe ich Zeit zum Spielen»

Allerdings spielten einige von ihnen schon schwule Männer in Filmrollen: zum Beispiel Harry Styles, der in «My Policeman» (2022) einen homosexuellen Polizisten in den 50er Jahren verkörpert. Oder Timothée Chalamet, der als noch nicht geouteter schwuler Teenager, der sich unter der Sonne der Toskana in einen älteren Mann verliebt, seinen absoluten Durchbruch in Hollywood feierte («Call Me By Your Name», 2017).

Timothee Chalamet poses for photographers upon arrival at the premiere of the film 'Bones and All' during the 79th edition of the Venice Film Festival in Venice, Italy, Friday, Sept. 2, 2022 ...
Bild: keystone

Beide zeigen sich auch in der Öffentlichkeit gerne feminin und beide bringen zum Ausdruck, dass einem Festlegen der sexuellen Orientierung oder auch der eigenen Identität ihnen zufolge zu viel Wichtigkeit beigemessen wird:

«Das Ziel, auf das wir uns zubewegen sollten, nämlich jeden zu akzeptieren und offener zu sein, besteht darin, dass es keine Rolle spielt, dass man nicht alles mit einem Etikett versehen muss, dass man nicht klären muss, welche Kästchen man ankreuzt.»
Harry Styles

Vielleicht meinte auch James Franco etwas Ähnliches, als er als Folge von öffentlichen Spekulationen sich selbst in einem «Interview» zu seiner Sexualität befragte. Allerdings hat es der Schauspieler wohl etwas übertrieben, als er seine eigene Frage, ob er denn nun schwul sei, so beantwortete:

«In meiner Kunst bin ich schwul, in meinem Leben bin ich hetero.»
James Franco

Kurz darauf wurde Franco – wohl als einem der ersten – «Celebrity Queerbaiting» vorgeworfen. 2008 (in «Milk») und 2011 (in seiner Masterabschlussarbeit «Broken Tower») hatte der heute 44-Jährige jeweils eine Filmrolle als Homosexueller. In der Folge zeigte er sich auch in den sozialen Medien teilweise zweideutig, was seine Sexualität betraf, und gab beispielsweise an, mit einem Mann zusammenzuwohnen.

FILE - In this Aug. 31, 2013 file photo, actor and director James Franco poses for photographers on the red carpet for the screening of the film "Child Of God" at the 70th edition of the Ven ...
James Franco (hier 2013 in Venedig) «spielt» gerne.Bild: AP/AP

Als er sich im angesprochenen Interview schliesslich als hetero «outete», kam das nicht gut an – und umso weniger seine Erklärung:

«Ich mag mein öffentliches Auftreten als Queer. Ich mag es, dass es so schwer ist, mich zu definieren und dass die Leute immer raten müssen, was ich bin. Sie wissen nicht, was zum Teufel mit mir los ist, und das ist grossartig. Nicht, dass ich das, was ich tue, tue, um die Leute zu verwirren, aber solange sie verwirrt sind, habe ich Zeit zum Spielen.»
James Franco, 2015

Profitieren von einem Trend?

Schauspieler und Sänger Styles äusserte sich zwar nicht in diese Richtung. Trotzdem war auch er Thema in den sozialen Medien, als ein Sketch von «Saturday Night Live» viral ging. Darin spielt Styles einen schwulen Social-Media-Manager, der es mit seinen Posts über Dreier oder der Frage: «Warum flippen Jungs aus, wenn ich sie bitte, mir in den Mund zu spucken?» etwas übertrieben hatte.

Wäre Harry Styles homosexuell, hätten Witze wie solche keinerlei Implikationen. «New York Times»-Autor Mark Harris stellte sich nun aber die Frage: Was, wenn er es nicht ist? Hätte er da vielleicht eine Grenze überschritten? Indem er ein Gebiet betrat, das ihm nicht gehörte? Oder indem er «sich über uns lustig macht»? Oder gar indem er sich über «uns lustig macht und von unserer Neugierde auf ihn profitiert»?

Da fällt uns doch gleich ein anderer Fall ein ...

«Wir befinden uns, historisch gesehen, immer noch in den Anfängen eines Zeitalters, in dem schwule Künstler ihre Arbeit machen können, ohne zu lügen oder sich zu verstecken», schreibt Mark Harris. In diesem Zusammenhang sei die Vorstellung, dass ein Hetero-Künstler Homosexualität grundsätzlich «nachspielen» könne, weil er glaubt, dass LGBTQ-Leute jetzt in Mode seien, «ziemlich abstossend».

Wieso ist der Vorwurf «Queerbaiting» aber auch problematisch?

Angenommen allerdings, jemand ist tatsächlich queer (also egal, ob schwul, bisexuell, trans usw.). Dann eröffnet sich mit dem Vorwurf des Queerbaitings eine Problematik, mit der sich queere Menschen seit jeher konfrontiert sehen: der des Outings. Und dieses Thema dürfte als Person des öffentlichen Interesses umso komplizierter sein. Und so werden Promis wie Harry Styles, der sich nach wie vor nicht über seine Sexualität äussern will, vor dem Vorwurf des Queerbaitings auch in Schutz genommen.

Dazu schreibt zum Beispiel das Magazin «GQ»: Wenn man wisse, welche Auswirkungen das auf die Normalisierung von LGBTQ-Personen hat, könne mehr Repräsentation und Sichtbarkeit in den Medien eigentlich nur gut sein. Das sei in den letzten Jahren wohl nie wichtiger als jetzt gewesen, «da die Gegenreaktion gegen Queer zu köcheln scheint». Aber: «Wenn wir über jemanden wie Styles sprechen, spekulieren wir über eine reale Person des öffentlichen Lebens, die, auch wenn ihr Berühmtheitsstatus in den Köpfen der Fans etwas anderes suggerieren mag, niemandem gehört.»

Prominente Opfer des Queerbaiting-Vorwurfs

Dem Vorwurf des Queerbaitings musste sich kürzlich auch Schauspieler Kit Connor stellen. Der 18-Jährige spielte in der Netflix-Serie «Heartstopper» einen Teenager, den es einige Zeit und Überwindung kostet, sich als bisexuell zu outen.

Nachdem Connor sich in der Öffentlichkeit jedoch händchenhaltend mit einer Frau zeigte, warfen ihm User auf Twitter Queerbaiting oder dass er sich selbst «auf eine queere Art und Weise projiziert» vor. Die Folge: Der Schauspieler löschte seinen Twitter-Account, nur um nach sieben Wochen mit einem Tweet zurückzukehren:

«Ich bin bi. Gratuliere, dass ihr einen 18-Jährigen dazu gezwungen habt, sich zu outen. Ich glaube, einige von euch haben den Sinn der Serie nicht verstanden.»
Kit Connor in einem Tweet

In derselben Situation sah sich der Grammy-nominierte R'n'B-Sänger Omar Apollo. Auch er fühlte sich genötigt, auf Twitter seine sexuelle Orientierung preiszugeben. (Oder zumindest anzudeuten; Apollo erklärte in einem kurzen, schlecht zitierbaren Satz, dass er durchaus gewisse sexuelle Handlungen an Männern durchführe.)

Jemanden aufzufordern, sich zu outen, ist problematisch

Autor Mark Harris erklärt sich die Problematik des Queerbaiting-Vorwurfs mit einem Widerspruch innerhalb der Generation Z: Es gebe eine «Kollision zwischen der Sexualität der Generation Z, die sehr flexibel ist, und ihrer Einstellung zur Kultur, die das nicht ist.» Damit meint er zum Beispiel die Überzeugung, dass Aneignung immer falsch ist, oder den überaus hohen Stellenwert von Authentizität.

Dieser Widerspruch kann dazu führen, dass sich ein Mensch gezwungen fühlt, seine Sexualität einerseits überhaupt erst zu definieren, und andererseits diese auch noch öffentlich mitzuteilen. So erklärte Harry Styles in einem Interview, seine Sexualität sei eines der wenigen Dinge, die er noch privat halten könne.

Auf diese Weise kommt auch Mark Harris in der «New York Times» zum Schluss: «Es ist problematisch, von allen zu verlangen, dass sie sich ‹outen› und sichtbar sind.»

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205 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Taliscaolila
09.02.2023 21:17registriert Juni 2016
Darf man sich als heterosexueller nicht feminin kleiden?
Darf ich als Frau keine Hosen mehr tragen ausser wenn ich lesbisch bin?
Lgbtq hat jahrelang dafür gekämpft die Geschlechterrollen/Identitäten aufzulockern, und beschweren sich jetzt, wenn sich jemand nicht in eine Kategorie stecken lassen möchte?
Meiner Meinung nach eine sehr toxische Entwicklung, die an die alten Rollenbilder erinnert.
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bundy
09.02.2023 21:01registriert Februar 2016
"Nein. Man sollte damit aufhören, die sexuelle Orientierung so zum Thema zu machen. Wenn Promis sich so darstellen wollen, sollen sie das dürfen."
Und Thema gegessen. Artikel braucht es dazu auch keine weiteren mehr.
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Gulash Ka None
09.02.2023 21:53registriert März 2017
Ich bin schwul, aber nicht "queer", wie sich das die Mehrheit vorstellt (wie übrigens die meisten LGB).
Aus diesem Grund geriet ich auch schon in die völlig abstruse Situation, in der mir heterosexuelle LTBTQ "Aktivisten" vorgeworfen haben, ich würde der Sache mit meiner Anpassung schaden.
Lässt mich eigentlich kalt, aber es zeigt mir, dass in gewissen Kreisen im Moment wohl auch noch die letzte Vernunft verloren geht🤦🏻‍♂️
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